„Selten habe ich mich in einer Ausstellung so gesehen gefühlt“
„TO BE SEEN. queer lives 1900-1950“ zeigt die Bedeutung von Sichtbarkeit in der Gesellschaft – gesehen werden, ohne dabei zur Schau gestellt zu werden. Die multimediale Ausstellung aus dem Münchner NS-Dokumentationszentrum ist für den Grimme Online Award 2023 in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“ nominiert und präsentiert die Vielfalt der queeren Szene in Deutschland, die seit weitaus mehr als 100 Jahren existiert. Durch das sorgfältig aufbereitete Storytelling ist die Ausstellung zusätzlich zum Museum nicht nur als Onlineformat zugänglich, sondern auch zeitlich unbegrenzt. Darüber hinaus wird aufgrund der Zweisprachigkeit von Ausstellung und Storytelling ein internationales Publikum erreicht, wodurch sogar die New York Times darauf aufmerksam wurde. Wie das Konzept zustande kam, was Queerness mit Feminismus zu tun hat und ob solch eine Ausstellung queerfeindliche Denkweisen umstimmen kann, verraten Hauptkuratorin Karolina Kühn und Online-Redakteurin Ilona Holzmeier im Interview.
Warum wolltet ihr genau diese Ausstellung kuratieren? Karolina Kühn: Die Ausstellung widmet sich der marginalisierten Emanzipationsbewegung von LGBTIQ+ und setzt dabei einen Schwerpunkt auf die Vielfalt queeren Lebens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bisher gab es im NS-Dokumentationszentrum schon verschiedene Ausstellungen zu den sogenannten Opfergruppen der Nationalsozialist*innen, also Menschen, die gezielt verfolgt und ermordet wurden. Und da war schnell klar, dass es auch mal eine Ausstellung zu der Verfolgung von Homosexuellen geben sollte. Das Besondere hierbei ist, dass ihr Fokus nicht auf der Verfolgungsgeschichte liegt und auch nicht nur männliche Homosexuelle in den Blick genommen werden, sondern dass die gesamte Vielfalt queeren Lebens gezeigt wird.
Woher stammen die Werke?
Karolina Kühn: Die Exponate stammen aus ganz unterschiedlichen Archiven und von diversen Leihgeber*innen. Unter den Kunstwerken gibt es historische Positionen und neue Arbeiten, die teilweise eigens für die Ausstellung entstanden sind. Zu den historischen Exponaten zählen Ego-Dokumente, Selbstzeugnisse oder Zeitschriften, die von privaten Leihgeber*innen oder von verschiedenen Archiven zur Verfügung gestellt wurden. Dabei sind die selbstorganisierten Archive aus der queeren Szene besonders hervorzuheben, wie zum Beispiel das Forum Queeres Archiv hier in München.
Wieso habt ihr euch dazu entschieden, gerade diese Ausstellung anhand des Storytellings auch online erfahrbar zu machen?
Ilona Holzmeier: Uns war schnell klar, dass wir der Geschichte von LGBTIQ+ größere Sichtbarkeit verleihen wollen. Und da war es für uns wichtig, dass wir Menschen, die nicht zu uns ins Museum kommen können, sei es aus Zeit – oder Mobilitätsgründen oder wenn einfach die Affinität für klassische Ausstellungen fehlt, nicht ausschließen. Außerdem gibt es das Storytelling auch auf Englisch, damit dieses vielschichtige Thema auch international noch mehr Sichtbarkeit erfährt. Wir mussten uns dabei selbstverständlich auf den Kern der Ausstellung konzentrieren, weswegen im Storytelling viel weniger Exponate zu sehen sind als in der Ausstellung. So hat man aber trotzdem die Möglichkeit, sich in einer überschaubaren Form mit der Thematik zu beschäftigen. Das Storytelling wird zudem auch nach Ausstellungsende online bleiben und ist somit für unterschiedliche Zielgruppen sehr gut nutzbar. Beispielsweise für Lehrkräfte, die das Thema gerne in den Unterricht einbauen möchten. Karolina Kühn: Wir werden auch wirklich häufig gefragt, ob die Ausstellung wandert, und das wird sie leider nicht tun, aber wir können zumindest immer auf das Storytelling verweisen, was mich sehr freut.
Inwiefern spielt die Kunst denn eine tragende Rolle in der Sichtbarkeit von Queerness?
Karolina Kühn: Künstlerische Positionen spielen auf jeden Fall eine große Rolle. Wenn man zurückschaut, gerade so in die 1920er Jahre und dabei auf die unterschiedlichen Ästhetiken der Kunstströmungen blickt, blitzt immer wieder die Ästhetik auf, die das verkörpert, was wir heute als queer bezeichnen würden – eine queere Ästhetik. Man findet eine große Vielfalt an Werken, die vielleicht auch eine gewisse Utopie von dem verkörpern, was historisch eben noch nicht sein durfte (nach Gesetz), aber natürlich war! Und jetzt für die Ausstellung haben wir verschiedene Künstler*innen eingeladen, die sich auf verschiedensten Wegen mit queerer Geschichte auseinandersetzen. Auch für mich war es sehr spannend zu sehen, wie unterschiedlich die Zugänge sind. Aber das, was die meisten eint, ist eben der genaue Blick in die Vergangenheit, ins Archiv. Teilweise auch die Arbeit mit Spuren von Ahnen, wie man vielleicht sagen könnte, und dann die Übersetzung in die ganz eigene künstlerische Herangehensweise.
Wie haben sich damals sprachliche Codes und Tarnbezeichnungen in der queeren Community verbreitet und welche gab es?
Karolina Kühn: Es war für uns sehr wichtig zu zeigen, dass es queere Selbstbezeichnungen immer schon gegeben hat und dass diese sich auch stets verändert haben. Das Wort queer gab es zu dieser Zeit noch nicht, bzw. wurde es dann später erst mal despektierlich verwendet. Aber es existierten ganz unterschiedliche Selbstbezeichnungen, die man auch in den Dokumenten wiederfindet. Sofern wir das wissen, verwenden wir in der Ausstellung auch die Begriffe, mit denen sich die Menschen selbst bezeichnet haben. Zusätzlich gibt es für die Besucher*innen ein Glossar, womit sie sich ein bisschen orientieren können. Heute unbekannte Begriffe sind beispielsweise „Urning“ oder „Urninde“, für schwule Männer und lesbische Frauen. Oder „Freundling“ und „Freundin“. Es gab auch einige Ausdrücke für trans* Personen, die heute so nicht mehr verwendet werden. In der Ausstellung gehen wir da in die Tiefe und erklären diese Begriffe und versuchen sie auch für die Welt heute fassbar zu machen.
Inwiefern geht Queerness mit Feminismus einher?
Karolina Kühn: Die Frauenbewegung wurde aus heutiger Perspektive lange Zeit nicht unbedingt der queeren Geschichte zugeordnet, sondern vor allem der feministischen Geschichte. Das hat auch seine Gründe, weil natürlich viele Frauen gerade um 1900 in erster Linie für ein allgemeines Wahlrecht und Bildung – sprich, für die allgemeinen Menschenrechte der Gleichbehandlung gekämpft haben. Es gab zwar viele lesbische Frauen innerhalb der Frauenbewegung, aber viele versuchten, sich zunächst einmal nur auf die „Kernforderungen“ zu beschränken, um diese nicht in Gefahr zu bringen. Trotzdem gab es auch einzelne Frauen, die darüber hinaus gegangen sind und offen zu ihrem Lesbisch-Sein gestanden haben. Menschen, wie beispielsweise Anita Augspurg und Sophia Goudstikker lebten als Paar zusammen und besaßen ein Fotoatelier mit einer Zweigstelle in München, das als Treffpunkt für das, was man heute als queere Szene bezeichnen würde, diente. Und durch ihre Lebensweise haben sie natürlich auch die queere Community beeinflusst und waren Vorbilder. Beide sind jedoch in die Öffentlichkeit gegangen, um für Frauenrechte zu kämpfen. Sie sind aber nicht auf ein Podium gestiegen und haben sich öffentlich zu ihrer lesbischen Sexualität bekannt. Doch trotzdem würde ich sie aus heutiger Sicht zur queeren Szene dieser Zeit zählen.
Inwieweit kann eurer Meinung nach eine solche Ausstellung gesellschaftlichen Wandel vorantreiben?
Karolina Kühn: Wenn man sich die Geschichte anschaut, gibt es verschiedene Punkte wie etwa die Vielfalt von Selbstbezeichnungen, die durchaus augenöffnend für manche Menschen sein können. Gerade, wenn vielleicht von rechter Seite immer wieder behauptet wird, dass „Queer-Sein doch eine Mode sei“ oder wenn auch in der aktuellen Diskussion um das Selbstbestimmungsgesetz für trans*, inter* und nicht binäre Personen immer wieder aufkommt, dass es das früher nicht gegeben habe… dann lohnt sich natürlich ein Blick in die Geschichte, um das Gegenteil wahrzunehmen. Wenn wir über Wandel oder erst einmal nur über Dazulernen oder Wissenserweiterung sprechen, dann müssen wir als Haus natürlich bei uns selbst anfangen: dass wir uns gemeinsam mit verschiedenen queeren Archiven und Gruppen mit der Geschichte beschäftigen, zusammenarbeiten und fortbilden. Auch ich habe bei dieser Ausstellung sehr viel dazugelernt. Es ist immer wichtig, erstmal zu schauen, wie man sich selbst weiterbilden kann.
Ilona Holzmeier: Wir hatten in unserem Gästebuch letztens einen sehr schönen Eintrag. Da hat jemand geschrieben: „Selten habe ich mich in einer Ausstellung so gesehen gefühlt.“ Und das fand ich bezeichnend, weil in der Gesellschaft gesehen zu werden trägt ja sehr viel bei zum gesellschaftlichen Diskurs. Also einfach dieses Sichtbarmachen und Gesehenwerden, ich glaube das ist fundamental, um etwas voranzutreiben.
Karolina Kühn: Ja, Gesehenwerden ohne „Ausgestellt zu werden“ – im Sinne von zur Schau gestellt werden. Es war uns auch sehr wichtig, dass dieses „To be seen“ über möglichst viele Selbstzeugnisse geschieht; dass wir deshalb auch verschiedene queere Künstler*innen und Aktivist*innen beteiligen, damit es eben nicht zu einer voyeuristischen Zurschaustellung kommt, sondern wirklich zu einem sensiblen Gesehenwerden, was ja manchmal eine feine Gradwanderung ist. Aber ich hoffe, es ist uns gut gelungen und solche Gästebucheinträge sind natürlich sehr schön zu lesen.
Wie war die Resonanz sonst bisher?
Ilona Holzmeier: Wir hatten vor allem auf Instagram überwältigend positive Resonanzen. Ich kann mich an nichts erinnern, was wirklich negativ war. Das hat mich persönlich sehr gefreut, weil das eine der ersten Ausstellungen ist, wo die Resonanz überhaupt so enorm ist. Dass es dann durchweg positiv ist, finde ich für meine Arbeit und für unser Haus sehr toll. Man merkt außerdem auch auf Social Media, dass unglaublich viele queere Communityvereinigungen aus ganz Deutschland angereist sind, um gemeinsam die Ausstellung zu besichtigen. Die haben da tatsächlich gegenseitig Termine vereinbart und Zeitpläne erstellt, damit sie die Ausstellung sehen können. Das war sehr interessant und spannend mitzuerleben.
Karolina Kühn: Auch in der traditionellen Presse wurde überwiegend positiv bis begeistert berichtet. Was mich sehr gefreut hat, war, dass sowohl lokale Zeitungen, aber auch solche Veröffentlichungsmedien wie queer.de mehrmals über die Ausstellung geschrieben haben. Das ist natürlich großartig, wenn auch von szeneninterner Seite so begeistert berichtet wird. Auch international, denn sogar die New York Times hat über die Ausstellung geschrieben. Es ist schön zu sehen, dass wir tatsächlich Menschen aus den USA erreichen können. Da kommt das Storytelling wieder zum Einsatz, denn die meisten Leute aus Amerika werden nicht extra wegen der Ausstellung nach Deutschland reisen, können jedoch auf das Storytelling zurückgreifen.
Wie kann man als nicht-queere Person die Community unterstützen und eine gute Ally-Person sein?
Karolina Kühn: Ich glaube zunächst einmal ist der erste Schritt immer zuhören, einlesen und Gespräche führen und versuchen zu verstehen. Und dabei nicht über, sondern mit den Menschen sprechen. Das ist auf jeden Fall immer gut und sinnvoll. Und dann als nächster Schritt, wenn es zum Beispiel um so etwas wie das Selbstbestimmungsgesetz geht, sich durchaus auch dazu solidarisch äußern und auf diese Weise Menschen in ihren Kämpfen unterstützen. Auch wenn man über Feminismus spricht, ist es natürlich essenziell, dass es auch männliche Feministen gibt, die mit uns kämpfen. Und dasselbe gilt für queere Personen, dasselbe gilt für Personen mit Behinderung und so weiter. Im Endeffekt geht es immer um eine gerechtere Welt, die uns allen zugutekommt und wichtig sein sollte.
Würden wir eurer Einschätzung nach heutzutage immer noch gegen Queerfeindlichkeit kämpfen müssen, hätte es den Nationalsozialismus nicht gegeben?
Karolina Kühn: Ja, vermutlich schon. Aber auf einer ganz anderen Ebene, würde ich sagen. Wenn man sich die Entwicklungen der Sexualwissenschaften vor 1933 anschaut, erkennt man schon einen gewissen Grad an Diskriminierung und Pathologisierung. Aber es gab auch Menschen, die sehr fortschrittlich gedacht und queere Menschen unterstützt haben. Beispielsweise gab es die ersten geschlechtsangleichenden Operationen für trans* Personen. Nach 1945 war das alles zerstört und manche Folgen merkt man bis heute. Es scheint, dass alles wieder auf den Stand zurückgegangen ist, auf dem es schon mal gewesen war. Deswegen war es für uns so wichtig in der Ausstellung zu zeigen, was es alles gab, bevor es zerstört wurde. Damit man sieht, dass Errungenschaften der Gleichberechtigung für bestimmte Gruppen und auch der Fortschritt der Toleranz gefährdet sein können und das leider nichts ist, was einmal erreicht und für immer da ist, sondern wofür wir tagtäglich einstehen müssen.
Ilona Holzmeier: Und was auch bedeutend ist: wir können nur erzählen, was noch vorhanden ist. Aber vieles ist ja auch verloren gegangen und diese Geschichten können leider nicht mehr erzählt werden.
Karolina Kühn: Ja, vieles davon ist der Stigmatisierung geschuldet. Es war 1945 nicht vorbei; Homosexuelle Männer sind direkt vom KZ ins Gefängnis gegangen, weil der Paragraph 175 weitergewirkt hatte und es bis in die 90er-Jahre gedauert hat, bis Homosexualität in Deutschland nicht mehr strafbar war. Das ist ja alles eine sehr junge Geschichte und es ist traurig zu sehen, wie Opfer dieser Zeit nicht gefragt wurden und diese Geschichten deswegen verloren gegangen sind oder auch selbst in den Archiven aufgrund dieser Stigmatisierung Dinge nicht bewahrt worden sind. Da gibt es sicherlich noch einiges zu entdecken, aber vieles ist eben verschollen. Und da kommen die Künstler*innen wieder ins Spiel, weil sie sich auf ihre Art und Weise mit gewissen Lücken und Leerstellen auseinandersetzen können. Was wir jetzt als Wissenschaftler*innen so nicht machen würden, findet dort mithilfe von künstlerischen Darstellungsweisen statt.
Das Interview führte Vanessa Gros. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:
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