Wie Kinder im DDR-Heimsystem gebrochen werden sollten
Sport bis zur völligen Erschöpfung, Zwang, Gewalt und Demütigung. All das prägte den Alltag der Jugendlichen im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Die Umerziehungseinrichtung ist die Spitze des repressiven Erziehungssystems der DDR. Kinder und Jugendliche sollen zu sozialistischen Persönlichkeiten gemacht werden. Wer sich nicht anpasst, wird bestraft. Das multimediale Scrollytelling „Im Takt: Wege in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau“ der gleichnamigen Gedenkstätte gibt Einblick in die schockierenden Zustände der DDR-Heimerziehung und setzt den Fokus auf die Wege, die nach Torgau führten. Den Kern der Scrollstory bilden ausführliche Erzählungen von Zeitzeug*innen, die ihre persönlichen und emotionalen Geschichten teilen. Im Interview berichten Bildungsreferentin Manuela Rummel, Zeitzeuge Alexander Müller, sowie Autor, Produzent und Regisseur Mike Plitt über die Hintergründe, Entwicklung und den persönlichen Antrieb des Projekts.
Sie sind für Ihr interaktives Online-Projekt: „Im Takt: Wege in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau“ für den Grimme Online Award 2023 in der Kategorie „Wissen und Bildung“ nominiert. Frau Rummel, Ihre Initiative setzt sich bereits seit vielen Jahren für die Aufarbeitung des DDR-Heimerziehungssystems ein. Wie entstand nun die Idee für diese digitale und innovative Online-Dokumentation?
Manuela Rummel: Wir haben unsere BLACKBOX HEIMERZIEHUNG. Das ist ein umgebauter Seecontainer, der an verschiedene Orte fährt, an denen repressive DDR-Heimerziehung stattgefunden hat, mit einer Ausstellung im Innen- und Außenbereich. An der Außenseite des Seecontainers gibt es einen QR-Code, der zu “IM TAKT” führt, damit sich Menschen während aber auch nach ihrem Besuch noch einmal mit dieser Thematik auseinandersetzen können. Das Projekt war ein Zusammenwirken. Wir haben damals bei der Entstehung gemeinsam mit Mike Plitt überlegt, was es braucht, um Jugendliche oder generell Personen anzusprechen und abzuholen. Wie kann man das Thema digital vermitteln? Und dann ist dieses wundervolle Projekt entstanden.
Die Website ist in Form einer Scroll- Dokumentation gestaltet. Der/ die Besucher*in kann sich so selbstständig durch die vier Kapitel bewegen. Dabei wirkt das Zusammenspiel von audio-visuellen Untermalungen, sowie Bild- und Textelemente wie ein Museumsbesuch. Herr Plitt, wieso haben Sie sich für diese Art der Dokumentation entschieden und was war Ihnen bei der Gestaltung besonders wichtig?
Mike Plitt: Ich habe mit der Gedenkstätte schon ein anderes Projekt gemacht, den Animationsfilm „Biegen und Brechen“ und im Zuge dieses Animationsfilms haben wir auch Alexander Müller kennengelernt, der seine Geschichte mit uns geteilt hat. Ich habe mit Alexander fünf Stunden gesprochen, aber ich wusste, da ist noch nicht alles erzählt und da entstand eben die Idee, dass man noch weiter gehen könnte und noch andere Zeitzeug*innen hört. Bei uns im Team hat sich eine ganz große Identifikation mit dem Thema eingestellt. Wir wollten unseren Beitrag dazu leisten, dass die Geschichte der Heimkinder nicht in Vergessenheit gerät, zumal sie einfach keine Lobby haben. Wer von uns denkt auch in seinem Alltag mal daran, wie es denn den Waisenkindern oder den Heimkindern geht? Wir haben darauf geachtet, uns auf der Textebene kurz zu fassen und den Zeitzeugen ein Forum zu geben. Ich wusste, das Thema braucht eine gewisse Tonalität, die eine klare Haltung hat, sozusagen ein ganz vehementes Daraufhinweisen. Ein wichtiger Leitgedanke hierbei war das Spannungsfeld von individueller Selbstverwirklichung und den Grenzen der Diktatur. Das spiegelt sich dann auch auf den verschiedenen Ebenen wider. Die Atmos, die kleinen Zeichnungen, die Stimmungsbilder, das Archivmaterial, sie alle unterstreichen noch einmal den Text. Das hat sich dann organisch zusammengefügt, aber das Kernelement waren natürlich die Gespräche mit den Zeitzeug*innen.
Das Online-Projekt wird durch viele zeithistorische Dokumente gestützt. Nehmen Sie uns doch einmal mit in die Entwicklung eines solchen Projektes. Wie lange hat der Prozess von der ersten Idee bis zur Fertigstellung gedauert und wie läuft die Recherchearbeit ab? Wie kommen Sie an alte Dokumente, Video- und Filmmaterialen?
Manuela Rummel: Wir haben bei uns vor Ort zum einen viel Kontakt zu Betroffenen von DDR-Heimerziehung. Zum anderen haben wir aber auch ein Archiv bestehend aus Zeitzeugeninterviews, Bildmaterial und einem Sammlungsarchiv mit Jugendhilfeakten. Und dann gehen wir natürlich auf Recherche bei ganz unterschiedlichen Archiven, zum Beispiel im Bundesarchiv. Das dauert schon eine ganze Weile, sich durch das ganze Archivmaterial zu arbeiten.
Das Projekt trägt den Namen “Im Takt: Wege in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau”. Warum ist es so wichtig den Fokus auf die Wege zu legen, die nach Torgau führten? Warum hätte es nicht auch “Im Takt: Leben im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau” heißen können?
Alexander Müller: Weil die Banalität der Einweisungsgründe, also „die Wege“, im krassen Kontrast standen zu dem, was die Heranwachsenden im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau erleben und über sich ergehen lassen mussten. So war oft die Flucht von Kindern und Jugendlichen aus diversen anderen Einrichtungen der DDR-Jungendhilfe ein Einweisungsgrund, weil sie sich so der sogenannten Umerziehung entzogen hätten. Torgau stand zwar vordergründig für Bestrafung und Abschreckung, sollte aber nachhaltig die Heranwachsenden brechen und für das System in Zukunft gefügig machen. Um es noch einmal ganz klar auszusprechen, die Kinder und Jugendlichen, die hierherkamen, haben gegen die Hausordnung der jeweiligen Jugendhilfe-Einrichtung verstoßen, aber nicht gegen ein geschriebenes Gesetz der DDR. In meinem Fall hat meine Mutter ein Schreiben unterschrieben, indem es darum ging, dass der Liedermacher Wolf Biermann in die DDR zurückkommen soll. Den hatte man ausgebürgert, weil er mit seinen Texten, Liedern und Gedichten das aussprach, was sich kaum jemand in der DDR getraut hatte auszusprechen. Und schnell war es dann geschehen. Ich kam ins Heim, weil man sich davon versprach, meine Mutter so einschüchtern zu können, sie mundtot zu machen, ihr die Angst zu machen, mich nie wieder zu bekommen. Ich habe mich durchaus wie eine Geisel gefühlt.
Manuela Rummel: Es ist ganz wichtig, die Vorgeschichte aufzuzeigen, die in den Geschlossenen Jugendwerkhof geführt hat. Bis heute gibt es große Vorurteile, schon wenn der Begriff „Jugendwerkhof“ fällt. Wir wollten den Weg nachzeichnen, warum sich ein Kind verhält, wie es sich verhält, nach all dem, was es auch im Heimsystem erlebt hat und welche Auswirkungen das haben kann.
Das Thema Heimerziehung in der DDR ist ein sehr sensibles und emotionales Thema. Herr Müller, wie gehen Sie als Betroffener damit um, Ihre Erlebnisse durch die Arbeit mit der Initiative immer wieder zu schildern und sich zurückzuerinnern?
Alexander Müller: Es hat verschiedene Facetten. Zum einen ist es die eigene Aufarbeitung einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ich habe sieben Jahre in der Heimerziehung verbracht. Ich wurde zu jemanden gemacht, der ich ursprünglich gar nicht war und auch gar nicht sein wollte, aber sein musste. Seit fünfzehn Jahren bin ich in der Aufarbeitung und gehe diesen Weg zurück, um mich persönlich wiederzufinden und den anzutreffen, der ich vor den Aufenthalten in den verschiedenen DDR-Heimen mal war, um das Leben nachzuvollziehen, das ich vielleicht gelebt hätte. Eine der anderen Facette ist, dass ich es für extrem wichtig halte, dass diese Dinge ans Licht kommen. Ein Heimkind zu sein oder gar noch ein „Jugendwerkhöfler“ ist bis heute ein Stigma. Das ist ganz tief in den Köpfen ehemaliger Ostdeutscher drin: „Der wird schon irgendwas gemacht haben, umsonst war der da nicht drin.” Ja, jeder hat in seinem Leben mal was gemacht, aber egal was ein Heranwachsender mal gemacht hat, es rechtfertigt in keinem Fall all diese Repressionen und seelischen Verstümmlungen. Es ist wirklich ein langer Weg und teilweise auch ein Kampf gegen Windmühlen. Als dann Mike Plitt kam, habe ich dies als eine gute Möglichkeit erkannt, das Thema noch mehr in die Öffentlichkeit zu stellen. Und das ist ja ganz gut aufgegangen.
Herr Plitt, Sie setzen sich sehr intensiv mit dem Thema auseinander. Beschäftigen Sie die Themen oder Erzählungen von Zeitzeug*innen auch nach der Arbeit oder können Sie sich im Feierabend davon lösen?
Mike Plitt: Es ist kein nine-to-five Job. Ich kann nicht sagen, ich höre Alexander um 9 Uhr zu und um 17 Uhr machen wir den Rekorder aus und am Dienstag höre ich mir das wieder an. Das arbeitet auch im Kopf weiter. Speziell Alexanders Geschichte hat mich sehr, sehr lange beschäftigt. Das kann man gar nicht glauben, wie mit den Kindern umgegangen wurde, gerade wenn man selbst Familie hat. Wenn ich nach der Recherche und Arbeit an dem Projekt eine Lektion formulieren müsste, auch wenn sie vielleicht banal klingen mag: Kindheit und Jugend gibt es nur einmal, dann sollte man es schon richtig machen. Und das ist in dem System leider nicht passiert.
Glauben Sie, dass das Heimerziehungssystem der DDR deutschlandweit bekannt ist, oder wird dem Thema nur in ehemaligen DDR-Bundesländern besondere Aufmerksamkeit geschenkt?
Manuela Rummel: Grundsätzlich denke ich, dass dem Thema Heimerziehung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Interesse ist aber bundesweit vorhanden, sodass wir auch Besuchergruppen aus den alten Bundesländern haben. Wir stellen fest, dass man gerade Jugendliche mit dem Thema DDR-Heimerziehung sehr gut erreichen kann. Im Jugendwerkhof Torgau waren die Jugendlichen damals zwischen 14 und 18 Jahren, da gibt es also viele Berührungspunkte mit der eigenen Lebenswelt.
Herr Müller, in der Dokumentation sagen Sie, dass viele Kinder und Jugendliche nie über ihre Erfahrungen gesprochen haben, unter anderem weil ihnen sowieso niemand geglaubt hätte. Haben Sie den Eindruck, dass das Offenlegen Ihrer Geschichte andere Betroffene dazu ermutigt über ihre Erfahrungen zu sprechen und immer mehr ehemalige Heimkinder ihr Schweigen brechen?
Alexander Müller: Ich selbst habe die BLACKBOX, und das ist mir nicht leichtgefallen, in meine Heimatstadt geholt. Das war ganz schön heftig. Ich stehe in meiner Heimat-Stadt auch so schon in der Öffentlichkeit, da ich mich dort gesellschaftlich engagiere. Viele wussten gar nicht, was ich für einen Hintergrund habe. Und dann stehe ich da, empfange die Leute und rede mit ihnen über diese Zeit. Es kamen viele ehemalige Heimkinder auf mich zu, die ich zum Teil nur so kannte, aber von denen ich gar nicht wusste, dass sie einen ähnlichen Lebensweg hatten. Ich glaube mit dem Film, der BLACKBOX und diesem Projekt wird eine Arbeit gemacht wird, die recht zielführend ist. Es geht weiter, dass Leute den Mut fassen, sich aufzumachen, denn da sind welche, die stellen sich in die Öffentlichkeit und ziehen das durch – also warum denn nicht auch ich? Ich konnte feststellen, dass viele durch dieses Beispiel ermutigt worden sind ihre Geschichte zu erzählen. Ich habe einem Mann kennengelernt, Mitte 60, der nie über seine Vergangenheit als Heimkind geredet hat. Ich war seit vielen Jahrzehnten der erste, dem er sich anvertraut hat. Und ich kann das verstehen. Diese Begegnung hat mir nochmal gezeigt, wie einsam und hoffnungslos Menschen mit so einer Biografie sein können und was dieses Projekt auszulösen vermag. Eben ein Stück zu sich selbst zu finden und sich zu reflektieren und einfach mal alles rauszulassen. Ich glaube der Mann ist nach unserer Begegnung wirklich erleichtert gegangen.
Mit einem Blick in die Zukunft: Wird es weiter neue Projekte zu diesem Thema geben? Glauben Sie, dass durch weitere Gespräche mit Zeitzeug*innen neue Erkenntnisse und Details aufgedeckt werden können oder ist die Thematik durch die intensive Arbeit ausrecherchiert?
Manuela Rummel: Es gibt noch blinde Flecken in der Aufarbeitung. Die BLACKBOX HEIMERZIEHUNG mit der Scrollstory ist für die Aufklärungsarbeit deshalb ein wichtiges Element. Wir sind schon sehr gespannt, welche Zeitzeug*innen wir noch kennenlernen und welche neuen Dokumente wir finden. Es braucht unbedingt weiterhin diese Arbeit, um auch die Lobby für Heimkinder insgesamt zu stärken.
Alexander Müller: Projekte wie diese fördern die Vernetzung von Menschen, die irgendwo mit sich und ihrer Vergangenheit allein gelassen sind und bis dahin so gar nichts von uns und unserem Angebot wussten, es aber dringend brauchen. Und so partizipiert man dann untereinander und es entstehen immer wieder neue Projekte und Menschen, die mittun wollen. Ja, es muss weitergehen.
Das Interview führten Esther Jacobs und Luise Knust. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
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