Leidkultur statt Leitkultur
Dass es zur NS-Zeit Enteignungen jüdischen Eigentums und Zwangsarbeit gab, ist nicht unbekannt. Dass viele Unternehmen, die heute erfolgreich sind, davon massiv profitiert haben, hingegen schon. Um dies zu ändern, veröffentlicht die Journalistin Sonja Smolenski seit 2020 auf ihrer Instagramseite „Boycott deutsche Leidkultur“ Beiträge über die nationalsozialistische Vergangenheit deutscher Unternehmen und Institutionen. Damit ist sie für den Grimme Online Award 2023 in der Kategorie „Wissen und Bildung“ nominiert. Im Interview erklärt sie, dass es um mehr geht als einen Boykott von Edeka, wie sich die deutsche Erinnerungskultur ändern muss und warum ihr Projekt dazu beiträgt.
Auf Instagram machst du regelmäßig Beiträge über die nationalsozialistische und koloniale Vergangenheit deutscher Unternehmen. Woher kam dir die Idee für dieses Projekt und wie hat alles angefangen?
Sonja Smolenski: Ich habe 2020 mit dem Projekt angefangen, nach den Anschlägen in Halle und in Hanau. Das war für viele in meiner Bubble, aber wahrscheinlich auch außerhalb, ein sehr einschneidendes Erlebnis. Teilweise war es auch total perfide, in Köln wurde nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau zum Beispiel Karneval weitergefeiert. Für mich stellt das eine starke Kontinuität dar. Deutschland nach 1945 schmückt sich gerne damit, dass es eine erfolgreiche Entnazifizierung gab, dass es keinen Antisemitismus, keinen Rassismus, keine Menschenfeindlichkeit mehr gibt, aber aus einer migrantischen, jüdischen, nicht-weißen Perspektive hat das nie aufgehört. Nach 1945 ging es nahtlos weiter, in verschiedenen Institutionen wie dem Verfassungsschutz, der Bundeswehr und anderen sind die gleichen Leute engagiert worden, die schon in der NS-Zeit erfolgreich waren. Deutschland hat sich mit dem Wirtschaftswunder und als eine der stärksten Wirtschaftsnationen immer hervorgehoben, aber das ist eben auf dem Rücken von nicht-weißen Menschen passiert. Viele der Firmen, die heute präsent sind und gefeiert werden, sind überhaupt noch da, weil sie erst Zwangsarbeiter*innen und später Gastarbeiter*innen ausgebeutet haben. 2020 war dann für mich so ein Moment, an dem ich dachte, ich will aufzeigen, wie tief verankert Menschenfeindlichkeit eigentlich auch in unserem Wirtschaftssystem ist. Halle und Hanau sind nicht einfach so in einem luftleeren Raum entstanden, sondern als Konsequenz einer fehlenden Aufarbeitung dieser Kontinuitäten von Kolonialismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus, den es in Deutschland schon seit dem 15./16. Jahrhundert gibt.
Wieso hast du dich dazu entschieden das Projekt auf Instagram zu machen?
Sonja Smolenski: Zum einen bin ich, glaub ich, die Generation, die viel Zeit auf Instagram verbringt. Und die Aufarbeitung der NS-Zeit findet meistens in Schulen statt und da habe ich das Gefühl, da hat keiner mehr Bock drauf. Es wird aus einer Perspektive betrachtet, die super unnahbar ist, super weiß, sehr alt und verstaubt. Eigentlich müssten viel mehr junge Menschen darüber betroffen sein, was passiert ist, da viele auch von Rassismus betroffen sind und da war Instagram das passende Format für mich diese Zielgruppe abzufangen und zu bespielen. Und ich bin durch mein Alter und meine Arbeit auch einfach Instagram-affin.
Und wie kam es dann zu dem Namen „Boycott deutsche Leidkultur“?
Sonja Smolenski: Es geht darum, dass ich mit dem Wort Leitkultur spiele und das t durch ein d ersetze. Das kommt so nicht von mir, das hat jemand anderes mal in einem Interview erwähnt. Hier in Deutschland wird immer wieder gepredigt, dass sich Menschen, die nach Deutschland kommen, einer gewissen Leitkultur anpassen müssen. Aber für mich stellt sich die große Frage, was diese Leitkultur ist. Für mich ist es eine Leidkultur, da die Leute, die nach Deutschland gekommen sind, größtenteils ausgebeutet wurden, wie die Gastarbeiter*innen in den 60er Jahren, nur 15 Jahre nach der NS-Zeit. Der Rapper Apsilon beschreibt das in seinem Lied „Köfte„, indem er so ungefähr sagt: „Das gleiche Pack, das 30 Jahre zuvor Menschen in Gaskammern verfrachtet hat, packt jetzt Menschen in Arbeitsbaracken“. Dementsprechend ist diese Leitkultur, von der immer gesprochen wird, für mich nur heiße Luft und eher mit viel Leiden verbunden für diejenigen, die nach Deutschland gekommen sind. Und gleichzeitig habe ich den Boykott gewählt, der in den USA eine Form des Widerstands gegen Unternehmen war, die Schwarze Menschen versklavt haben. Später haben dann die Nazis jüdische Geschäfte boykottiert und daher war es für mich wichtig, dieses Wort zu reclaimen. Es geht also nicht darum, alle deutschen Firmen zu boykottieren, die von der NS-Zeit profitiert haben – dann könnte man wahrscheinlich gar nichts mehr konsumieren in Deutschland – es geht darum, diese Leitkultur zu boykottieren, die viele Menschenleben auf dem Gewissen hat und bei der ich nicht weiß, ob ich so stolz auf sie sein würde, wenn ich weiß, christlich, deutsch und hier aufgewachsen wäre.
Das erklärst du auch genauer in deinem Storyhighlight „reclaimboycott“ und erwähnst zudem die deutsche Erinnerungskultur, die du unter Bezug von Max Czollek’s Gedächtnistheater kritisierst. Wo muss deiner Meinung nach Veränderung in der deutschen Erinnerung stattfinden? Wie trägst du dazu bei?
Sonja Smolenski: Ich glaube, die Veränderung, die gerade am wichtigsten ist, besteht darin, dass Deutschland anerkennt, dass die Entnazifizierung ein Flop war. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass Erinnerungskultur nie aus der Betroffenenperspektive gemacht wird. Betroffene, Holocaust-Überlebende und Shoah-Überlebende werden immer zu Veranstaltungen eingeladen, wo Kränze niedergelegt werden und sie Reden halten, was unglaublich wichtig ist. Aber es gibt für sie nur die Rolle der passiven Opfer, wie auch Czollek sagt, die wieder in Deutschland sind und jetzt sagen: „Alles ist wieder gut, wir haben uns versöhnt; es ist traurig und schlimm, was passiert ist, aber wir machen jetzt weiter.“ Den Teil, den ich dazu beitrage, sehe ich darin, aus meiner migrantisierten, jüdischen Perspektive Sachen aufzuarbeiten und auch laut kritisieren zu können und ich merke tatsächlich immer wieder, dass das bei vielen Leuten aufstößt. Zum Beispiel gab es die Idee einen Podcast zu machen zu diesem Projekt und ich habe bei funk angefragt. Die fanden die Idee zwar gut, aber gleichzeitig auch zu aktivistisch und politisch. Da frage ich mich, wie das zu politisch sein kann, wenn die Auseinandersetzung damit doch unglaublich notwendig ist. Mir fällt im Alltag immer wieder auf, wie heuchlerisch das Ganze ist. Stolpersteine zum Beispiel. Allein das Wort irritiert mich schon; man stolpert ja nicht gern und es ist eigentlich unangenehm, wenn man stolpert. Und das ist etwas, mit dem sich Deutschland sehr gern schmückt, aber oftmals sind Betroffene gar nicht zu Wort gekommen. Auch der Völkermord an den Sinti*zze und Rom*nja, der Porajmos, wurde erst 1982 von Deutschland anerkannt, nachdem die Betroffenen sich selbst dafür eingesetzt haben. Das ist etwas, das wir immer wieder sehen, dass die Betroffenen selbst dafür kämpfen müssen, dass etwas passiert, dass es ein Denkmal oder irgendetwas, das ihnen gerecht wird, gibt. Auch das NSU-Denkmal an der Keupstraße in Köln ist ein Beispiel dafür. Ich glaube, das ist das, was Deutschland unbedingt aufarbeiten muss, und zwar Erinnerungskultur aus Betroffenenperspektive machen und Betroffenen zuhören.
Um zurückzukommen auf die Beiträge, die du machst, die beziehen sich immer auf ein Unternehmen, eine Institution oder auch eine Person. Warst du teilweise überrascht, wie viele von diesen ihre NS-Vergangenheit nicht aufarbeiten?
Sonja Smolenski: Wenn man sich länger mit diesem Thema beschäftigt, merkt man, wie viele Leerstellen es gibt und wie viele Strukturen überhaupt nicht zur Aufarbeitung bereit waren, insofern hat mich das nicht überrascht. Ich war teilweise verwundert, dass sehr viele Unternehmen beispielsweise Studien in Auftrag gegeben haben und auf ihrer Website dann trotzdem diese Lücke zwischen 1933 und 1945 hatten. Denn eigentlich schadet es ja nur ihrem Image, wenn sie sich ihrer Vergangenheit nicht stellen, die Studien sind schließlich nur ein paar Mausklicks entfernt. Diese Dreistigkeit zu sagen, da hätte nichts stattgefunden, hat mich schon teilweise überrascht. In meiner Recherche überrascht mich immer mal wieder, wie die Bundesregierung damit umgeht. Auch, dass es für die Zwangsarbeiter*innen ein langer Kampf war entschädigt zu werden. Trotz der in Auftrag gegebenen Studien haben sich Unternehmen geweigert Zwangsarbeiter*innen, die sie beschäftigt haben, zu entschädigen. Das zeigt für mich, dass die Aufarbeitung und das Aktivwerden und für den angerichteten Schaden zu zahlen, zwei verschiedene Dinge sind.
Gab es schon Reaktionen von Unternehmen oder Institutionen, die du vorgestellt hast?
Sonja Smolenski: Tatsächlich noch nicht und ich bin eigentlich auch ein bisschen froh darüber, weil ich immer ein bisschen Angst hatte, dass mir Klagen ins Haus flattern. Bisher hatte ich Glück und wurde von Shitstorms oder Unternehmen, die mich kontaktieren, verschont. Aber vielleicht sollte ich mal eine Rechtsschutzversicherung abschließen, wer weiß, was noch kommt. (Lacht)
Sind dir aus der Community irgendwelche negativen Reaktionen von Instagram-User*innen aufgefallen?
Sonja Smolenski: Ganz selten tatsächlich, was mich total überrascht, da ich das Gefühl habe, dass dieses Thema oft mit viel mehr Abwehrhaltung konsumiert wird. Aber diese Leute haben die Seite wahrscheinlich einfach noch nicht entdeckt. Insgesamt sind die Leute, die dieser Seite folgen, total empowernd und sweet und schreiben immer wieder Nachrichten, über welche Firma es noch einen Beitrag geben könnte. Ein paar Menschen sagen, dass ja alle deutschen Firmen was gemacht hätten und was das bringen würde, das zu machen. Damit kann ich aber gut leben, Kritik wird es immer geben und bisher ist ein richtiger Shitstorm, wie ich ihn erwartet habe, auch ausgeblieben. Aber das ist, glaub ich, mit Vorsicht zu genießen.
Was siehst du zukunftsmäßig für das Projekt? Du hast ja gerade schon gesagt, du wolltest vielleicht einen Podcast machen, hast du noch weitere Pläne?
Sonja Smolenski: Das mit dem Podcast ist immer noch so eine Idee, also wenn irgendjemand hier das Interview liest und Lust auf Podcast hat, hit me up. Prinzipiell habe ich gar nicht so viele große Pläne, außer immer wieder Kooperationen zu machen. Mit dem Format KARAKAYA TALKS, das ja auch für den Grimme Online Award nominiert ist und mit dem ich zusammenarbeite, haben wir verschiedene Ideen und wollen gerne weiter Projekte zusammen machen. Das ist dann auch immer abhängig von Förderungen, da ich das Projekt komplett ehrenamtlich mache und nebenbei noch arbeite. Da hoffe ich gerade, dass eine Förderung, die wir beantragt haben, durchgeht, damit es dann ein größeres Projekt gibt. Und ansonsten für die Zukunft einfach immer mal wieder die deutsche Leidkultur boykottieren.
Das Interview führte Sophia Leonie Thielager. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:
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