Über Ausbeutung von ukrainischen Geflüchteten und skrupellose Geschäftsmodelle
Durch investigative Recherche haben die Journalistinnen Joana Lehner und Ekaterina Bodyagina aufgedeckt, wie Ukrainerinnen von deutschen Unternehmern systematisch ausgebeutet werden. Im ersten Teil wird die Geschichte der Ukrainerin Anastasiia vorgestellt, die zum Opfer eines vermeintlichen Hilfsangebots von Bäcker Maximilian H. wurde. Im zweiten Teil wird Alexander Butenko in den Blick genommen, der von der Ukraine aus illegale Jobs in Deutschland vermittelt. Das Besondere an der anschaulichen Reportage von Business Insider Deutschland ist, dass man einen tiefen Einblick in beide Seiten – in die Perspektive eines Opfers sowie eines Täters – bekommt. Die multimediale Reportage „Das Geschäft mit ukrainischen Flüchtlingen“ wurde für den Grimme Online Award 2023 in der Kategorie „Information“ nominiert.
Wie kam es dazu, dass Sie dieses Projekt in Form einer Multimedia-Reportage ins Leben gerufen haben?
Joana Lehner: Am Anfang unserer Recherche gab es nur wenig Berichterstattung über die Ausbeutung ukrainischer Geflüchteter. Wenn darüber berichtet wurde, dann eher über Betroffene. Es gab wenig über die dahinterstehenden Geschäftsleute. Mit der Betroffenen Anastasiia und dem illegalen Jobvermittler Alexander Butenko hatten wir zwei verschiedene Perspektiven und exklusive Fälle, mit denen wir das Geschäftsmodell solcher Leute und somit das ganze System beleuchten konnten. Durch Telefonate, Sprachnachrichten, Chatverläufe, Viber-Gruppen und die Instagram-Accounts der beiden kam auch viel Material zusammen. Diese Fülle an Material konnten wir multimedial am besten darstellen und so einen tiefen Einblick in beide Gefühlswelten geben.
Ekaterina Bodyagina: Da das Projekt mehrere Ebenen hat, können die Leser*innen entscheiden, wie tief sie in die Geschichten eintauchen wollen: Ob sie nur den Text lesen oder sich auch Videos anhören und durch mehrere Nachrichten scrollen wollen.
Welche verschiedenen Rollen hatten die einzelnen Projektmitglieder dabei?
Joana Lehner: Ich war vor allem für die Suche und Recherche der Protagonist*innen zuständig. Dazu habe ich mit einigen Beratungsstellen telefoniert, um mehr über betroffene ukrainische Geflüchtete, deren Unterkünfte und den Umfang der Ausbeutung herauszufinden. So bin ich auch auf Anastasiia gestoßen. Für die weitere Recherche und die Interviews war es dann sehr hilfreich, dass Ekaterina russisch spricht. Dabei war es wichtig, immer alle Gesetze im Auge zu behalten, die wir als Journalistinnen einhalten müssen. Außerdem habe ich die erste Version der Texte verfasst und zusammen mit Ekaterina daran weitergearbeitet und sie finalisiert.
Ekaterina Bodyagina: Ich war mit unseren Protagonist*innen im Kontakt: Ich habe mehrere Interviews mit Anastasiia geführt, mit potentiellen Arbeitgebern telefoniert und mit Alexander geschrieben. Wir haben aber viel zusammen besprochen und vorbereitet. Um in Kontakt mit Alexander Butenko zu kommen, haben wir einen Lockvogel namens Daryna erfunden und einen entsprechenden Lebenslauf erstellt. Ich habe diesen Lockvogel samt Perücke und Brille gespielt und mich somit als Daryna ausgegeben.
Joana Lehner: Ekaterina hat auch am Wochenende Telefonate mit potenziellen Arbeitgebern geführt, zum Beispiel mit Müttern, die illegale Jobs als Nannys angeboten haben. Nach solchen Telefonaten haben wir uns ausgetauscht und den weiteren Verlauf besprochen. Zudem hatten Alexander Butenko und seine Partnerin in Deutschland einen ganz bestimmten Fragebogen, bei dem wir unsere Antworten sorgfältig auswählen mussten – damit wir im Prozess der Jobvermittlung weiterkamen. Außerdem war da noch mein Ressortleiter, der uns inhaltliches Feedback gegeben hat sowie Lisa Kempke, die für das kreative Storytelling, die Grafiken und die Videos zuständig war. Am Schluss hat unsere Textchefin noch einmal alles geprüft und uns Feedback gegeben.
Das klingt alles sehr anspruchsvoll und aufwändig. Wie viel Zeit hat die Recherchearbeit insgesamt in Anspruch genommen?
Joana Lehner: Im Juni 2022 sind wir so richtig eingestiegen und haben dann etwa ein halbes Jahr daran gearbeitet. Davor habe ich aber schon einige Telefonate geführt. Je weiter die Recherche vorangeschritten ist, desto mehr Zeit haben wir da reingesteckt.
Ekaterina Bodyagina: Es war wirklich tägliche Arbeit, wir hatten währenddessen nie Urlaub von der Recherche – auch am Wochenende nicht. Wir mussten ja den Kontakt mit Alexander Butenko aufrechterhalten und ihm regelmäßig antworten, um ihn nicht zu verlieren.
Sie haben gerade schon erzählt, wie Sie Anastasiia kennengelernt haben. Aber wieso haben Sie gerade ihre Geschichte ausgewählt?
Ekaterina Bodyagina: Es war generell schwierig, Protagonistinnen zu finden, weil viele Betroffene Angst haben und sich nicht trauen, sich selbst Hilfe zu holen. Viele schämen sich leider auch. Anastasiia sagte im Interview, dass sie sich schämt und sich dumm fühlt, dass sie in diese Situation geraten ist, obwohl die Schuld auch in ihrem Fall bei den Tätern liegt. Außerdem gibt es eine Sprachbarriere und viele kennen ihre Rechte in Deutschland nicht. Und die Leute, die trotz all der genannten Schwierigkeiten Hilfe suchen, trauen sich oft aus Angst vor ehemaligen Arbeitgebern nicht, mit Journalist:innen zu sprechen. Deswegen hatten wir eine geringe Auswahl an Leuten, die wir kontaktieren konnten.
Joana Lehner: Es war wirklich eine Vertrauensfrage: Wer ist bereit, sich uns zu öffnen? Vorab haben wir immer erst mal eine Nachricht an eine der Beraterinnen geschrieben, um zu erklären, was unser Projekt darstellt, wie wir arbeiten und was wir vorhaben. Diese Nachricht wurde an Betroffene weitergeleitet. Nicht von allen kam eine Antwort. Bei Anastasiia war auch noch ein wichtiger Punkt, dass wir bei ihr zeigen konnten, wie ein einzelner Geschäftsmann in Deutschland vorgeht, um ihre Notlage auszunutzen und sie auszubeuten, weil sie ihre Rechte nicht kennt.
Und wieso haben Sie sich für Alexander Butenko als Beispiel für illegale Jobvermittlung entschieden?
Joana Lehner: Es ist eher selten, dass man an so einen Jobvermittler herankommt. Den Fall von Alexander hatten wir exklusiv vorliegen. Es ist eher selten, dass man überhaupt an so einen dubiosen Jobvermittler aus der Ukraine herankommt. Anhand von ihm konnten wir deutlich machen, dass nicht nur deutsche Geschäftsleute mit der Notlage ukrainischer Geflüchtete Geld verdienen, sondern sich auch Unternehmer außerhalb Deutschlands daran bereichern. Zusammen mit seiner deutschen Geschäftspartnerin Ludmila hat Alexander Butenko ein ausgeklügeltes System zur Vermittlung von Schwarzarbeit aufgebaut. Mit unserer Recherche konnten wir gut zeigen, wie das System funktioniert, zum Beispiel wie Alexander über Viber- oder Facebook-Gruppen Leute anlockt und für die Jobvermittlung mehrere hundert Euro Provision kassiert.
Ekaterina Bodyagina: Unsere Recherche hat auch gezeigt, dass solche Geschäftsleute in der Ukraine gar keine Angst haben. Als ich Alexander konfrontiert habe, hat er offen gesagt, dass er keine Furcht habe und dass er sich nicht um deutsche Gesetze scheren würde. Für ihn ist es komplett egal, dass es illegal ist, weil er denkt, dass das deutsche Recht sowieso nicht an ihn herankommt.
Gab es dabei eine große Herausforderung, die Ihnen begegnet ist?
Ekaterina Bodyagina: Eine Herausforderung war das Finden der Protagonistinnen und darüber hinaus der erfundene Lockvogel: Dabei musste ich konsequent in meiner Rolle als Daryna bleiben und ihre ganze Geschichte im Kopf behalten. Wir sind ja keine professionellen Schauspielerinnen – aber wir haben es geschafft.
Joana Lehner: Es war auch herausfordernd, immer hartnäckig zu bleiben und trotzdem mit den Fragen nicht zu weit gehen, um unentdeckt zu bleiben. Einerseits wollten wir natürlich viel über das Geschäftsmodell und die verantwortlichen Drahtzieher herausfinden, andererseits mussten wir ja aufpassen, dass nicht auffällt, dass wir Journalistinnen sind.
Was empfanden Sie als besonders schockierend oder überraschend im Laufe des Projektes?
Ekaterina Bodyagina: Ich fand es schockierend, wie zynisch einige Leute sind. Ich als Daryna habe einmal ein Jobangebot als Kindermädchen bekommen von einer russischsprachigen Frau namens Dana mit drei Kindern. Bei dieser Familie hätte Daryna sieben Tage pro Woche arbeiten sollen, ganz ohne Urlaub und Wochenende. Und dies für 800 €. Auf die Frage nach meinen freien Tagen wollte sie keine klare Auskunft geben. Sie versuchte mir das Gefühl zu geben, als wäre die Frage danach an sich schon falsch. Das alles fand ich ziemlich schockierend.
Joana Lehner: Für mich war es zudem schockierend, wie schamlos mit Geflüchteten umgegangen wird, die gerade Krieg erlebt haben und traumatisiert aus ihrem Heimatland kommen. Mir hat das Verständnis gefehlt, wie Geschäftsleute so unempathisch und nur auf Geld bedacht sein können. Außerdem fand ich es überraschend, wie wenig die Behörden darüber wissen. Wie waren auch im Austausch mit dem Zoll und dem Bundesarbeitsministerium. Diese hatten überhaupt keine hinreichenden Erkenntnisse darüber, wie Schwarzarbeit auf Social Media vermittelt wird. Überall dort, wo wir recherchiert haben, also in Viber- und Facebook-Gruppen, wurde bis dahin nicht von deutschen Behörden ermittelt.
Gab es Situationen oder Aufgaben, die Sie nicht so gerne durchgeführt haben?
Ekaterina Bodyagina: Für mich war es neu, jemanden zu spielen, der ich eigentlich nicht bin und auch eine Herausforderung in dieser Rolle konsistent zu bleiben. Die Konfrontation mit Alexander war auch herausfordernd: Es war zwar gut, dass wir durch die langen Gespräche viel herausfinden konnten, aber man musste dabei auch wirklich hartnäckig bleiben und einer Linie folgen. Das war aber definitiv auch eine interessante Erfahrung.
Joana Lehner: Für mich waren es auch die Konfrontationen, wenn man den Menschen die Vorwürfe macht. Viele haben direkt alles abgestritten, wie etwa Maximilian H., der Arbeitgeber von Anastasiia. Er ist extrem aggressiv geworden, hat alles abgestritten und wollte gar nicht erst mit uns sprechen. Dies ist aber keine Aufgabe, die ich ungern gemacht habe. Es war nur herausfordernd, weil man ja eigentlich erreichen möchte, dass die Leute zu den Vorwürfen Stellung beziehen.
Wie waren das Projekt und die Zusammenarbeit für Sie persönlich in emotionaler Hinsicht?
Ekaterina Bodyagina: Für mich war es ein sehr persönliches und sensibles Thema. Ich komme aus Russland und es fühlt sich wie meine Verpflichtung an, die Konsequenzen von Russlands Aggression gegen die Ukraine aufzuzeigen. Anastasiia hat auch im Interview beschrieben, wie ihre Familie unter dem Krieg gelitten hat: Zum Beispiel verloren ihre Eltern auch wegen des Kriegs ihre Jobs. Das war ja auch ein Grund, warum Anastasiia erst in diese Situation gekommen ist: Sie wollte ihrer Familie helfen und Geld in die Ukraine schicken.
Joana Lehner: Für mich war es ebenso emotional, aber wir haben beide trotzdem versucht, eine journalistische Distanz zu wahren. Das gelingt einem natürlich nicht immer. Wie für Ekaterina als Russin, fühlt es sich für mich als Deutsche auch wie eine Verpflichtung an: Wir nehmen ukrainische Geflüchtete auf, um ihnen Sicherheit vor dem Krieg zu bieten. Trotzdem erfahren einige Geflüchtete oft keine Sicherheit. Ich fand es auch emotional, als Anastasiia erzählt hat, dass sie in dem Haus von Maximilian H. eingesperrt worden sein soll. Diese Hilflosigkeit konnte man richtig nachfühlen. Da kommt man erst irgendwo an und gerät direkt wieder in eine Situation, aus der man allein schwer wieder herauskommt.
Wie fielen die Reaktionen auf die Veröffentlichung des Projektes aus?
Joana Lehner: Die Reaktionen waren konstruktiv. Wir haben ja einen Nachfolgeartikel geschrieben und mit Spitzenpolitiker*innen wie Jens Spahn und Wolfgang Kubicki gesprochen. Da haben wir unsere Recherche noch einmal konkret vorgestellt. Dabei wurde durchgängig gefordert, dass man Geschäftsleuten wie Alexander Butenko oder Maximilian H. das Handwerk legen muss, dass die Strafverfolgung verbessert werden muss und der Zoll härter durchgreifen sollte. Auf politischer Seite hat unsere Recherche großen Zuspruch bekommen und die Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt. Der Zoll prüft nun endlich auch, ob er Ermittlungen anstellen kann.
Das Interview führte Carolin Kleinknecht. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang “Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:
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