Ein „süßer Opa“ und die große Überraschung
Eindrücke von Ute Zander und Rebekka Martin
Gewinnen heißt, nicht gescheitert nach Hause zu gehen
Das Gemurmel hinter dem grauen Vorhang wird lauter. Sektkorken knallen. Dort werden wohl gerade Käsebrote gereicht. In Trauben stehen die eingeladenen Gäste um Stehtische herum und reden angeregt. Es gibt viel zu erzählen. Wahrscheinlich hat man sich vor einem Jahr bei der Preisverleihung zum Grimme Online Award das letzte Mal gesehen.
Um einen Stehtisch herum stehen Männer und Frauen, die reden nicht. Sie blicken nervös auf das Display ihres Smartphones. Vielleicht zukünftige Preisträger? Auf der anderen Seite des Vorhangs verlässt gerade Anja Backhaus, Moderatorin der 14. Preisverleihung des Grimme Online Award, den Raum durch den Hintereingang Richtung Hafenbecken in Köln Mülheim. Noch einmal den Text durchgehen und Luft schnappen.
Der Countdown läuft
„Noch fünf Minuten bis zur Preisverleihung des Grimme Online Award 2014“, ertönt eine tiefe Männerstimme über Band. Schnell füllt sich der Saal. Roger Cicero eröffnet den Abend mit seinem „Zieh‘ die Schuhe aus“. Ja, und er schafft es tatsächlich, die Zuschauer zum Finger schnippen zu bringen. Die Verleihung kann beginnen.
Digital Natives im Haus
Als Anja Backhaus auf die Bühne tritt, ist ihre erste Frage an das Publikum, ob Digital Natives anwesend seien. „Heute wohl nicht.“ Ein leises Lachen geht durch den Raum. Dann zeigen doch ein paar vereinzelte Finger auf. „Nein, Herr Thadeusz sie sind auch nicht nach 1980 geboren“. Dieses Mal ein lautes Lachen.
Dr. Frauke Gerlach, die neue Geschäftsführerin und Direktorin des Grimme-Instituts, gerade zwei Monaten im Amt, betont die wichtigen Themen, die es in diesem Jahr bei den nominierten Angeboten gab: Kampf um Öl, Alzheimer, Sterbehilfe oder Netzpolitik. Sie nennt die Qualitätskriterien wie Authentizität, publizistische Leistung und Objektivität. Besonders heraus gestochen habe, so Gerlach, die hohe visuelle Qualität beim Digital Storytelling: Moderne Technik verbindet sich mit solidem Handwerk.
Jörg Thadeusz, der Preispate für „Information“, berichtet von seinen Gefühlen bei Preisverleihungen, für die er nominiert war : „Nicht gewinnen heißt scheitern“. Ein noch lauteres Lachen. Außerdem ermahnt er die Gewinner des heutigen Abends, nicht gleich aufzuspringen, sondern erst einmal zu genießen.
Zwischen Hoffnung und Verzweiflung
Der erste Preisträger wird verkündet. „Zwischen Hoffnung und Verzweiflung – der Neue Nahe Osten“ ist der erste Gewinner des Abends. Fünf Personen stehen auf der Bühne. Aber eigentlich waren bis zu 40 Mitarbeiter an der Dokumentation in Fernsehen und Internet beteiligt. Eine Nachfrage gilt der Gefahr für Journalisten in dieser Region. Der Journalist Jörg Armbruster wurde bei den Dreharbeiten in Aleppo angeschossen und schwer verletzt.
Noch ein Gewinner in der Kategorie „Information“
„Jung & Naiv – Politik für Desinteressierte“ bekommt einen Preis. Mit Charme schafft es Tilo Jung bis über Deutschlands Grenzen hinaus, nicht nur Politikern nahe zu kommen. Jörg Thadeusz bezeichnet ihn scherzhaft als hinterhältigen, bösen Kinderreporter. „Warum bist DU Kanzlerkandidat““, fragte Tilo Jung gerade raus Peer Steinbrück. Tilo Jung erzählt: „Ich will einfach nur Fragen stellen, die sich Journalisten nicht mehr trauen zu fragen.“ Die Politiker, die er interviewt, so seine Erfahrung, fühlen sich irgendwann richtig wohl und nach spätestens 20 Minuten würden sie zurückduzen. und locker mit ihm plaudern.
Gibt es heute etwa nur Gewinner?
Noch ein Gewinner in der Kategorie „Information“: Pressekompass.net kann sich nun auch unter die Glücklichen mischen. Das Angebot gibt einen grafischen Überblick, wie große Medien, Blogs, und Rezipienten, Themen diskutieren und darstellen. Kompass gleich Orientierung. Ist eigentlich klar. In der riesigen Medienwelt auf jeden Fall nicht gerade unwichtig, wenn man bedenkt, dass viel Information nicht gleich bessere Informiertheit bedeutet. Eine Selektion ist da nicht immer einfach. Und auch die Nutzer können mitmischen und ihre Meinung per Kompassnadel in der Grafik festlegen. Presseschau mal ganz anders. Finden wir super.
Warum passt der Grimme Online Award so gut nach Köln?
Anja Backhaus setzt sich für einen kurzen Talk zu Jürgen Roters, Oberbürgermeister von Köln, ins Publikum. „Warum passt der Grimme Online Award so gut nach Köln?“ Roters: „Wo soll er denn sonst hin?“ Wer beim ersten Mal beim Grimme Online Award im Dock.One dabei gewesen sei, so Roters, wird sehen, wie sich das Kölner Vedel Mülheim entwickelt hat. „Vielleicht können wir dann demnächst auch mit öffentlichen Verkehrsmittel hierher kommen“, freut sich Anja Backhaus und appelliert an den OB von Köln.
Weiter geht’s mit der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“
Eine Rapperin und Moderatorin als Preispatin: Nina Sonnenberg. Sie schämt sich, zugeben zu müssen, dass sie nicht besonders internetaffin sei. Für das neue Album hat sie für die Social-Media-Kanäle Handyvideos gedreht. Die Antwort vom Kollegen: „Ganz toll gefilmt Nina, nur leider hochkant.“ Wieder lautes Lachen.
Die NZZ kann jubeln
Den ersten Preisträger, den Nina Sonneberg verkünden darf, ist das großartige Multimedia-Special der Neuen Zürcher Zeitung: „Du fliegst nur einmal„. Die Reportage dreht sich um den Schweizer Snowboarder Iouri Podladtchikov und beleuchtet nicht nur seine sportliche Karriere, sondern vor allem ihn als Person – mit all seinen Facetten. Christof Gertsch, Autor des Projekts, nimmt den Preis stellvertretend für alle Kollegen an. Auf die Frage von Anja Backhaus, wie sich die Zusammenarbeit mit Podladtchikov gestaltet hätte, wo er Journalisten doch normalerweise nicht gerne Interviews gebe, antwortet Gertsch in Schweizer Manier: „Er mag mich halt“. Wir mögen ihn auch und finden das wirklich eine herausragende Leistung.
Du kriegst das Ding!
Seit Nina Sonnenberg das Blog „42553 Neviges“ durch den Grimme Online Award kennen gelernt habe, sei sie ein bekennender Fan. „Meine Frau hat gesagt: Du kriegst das Ding! Ich dachte, ich habe keine Chance“, erzählt der 68-jährige Norbert Molitor, Autor des Blogs, sichtlich gerührt. Und alle sind es mit ihm. „Was für ein süßer Opa“, heißt es direkt bei Twitter. Und auch wir sind verliebt. Er brauche eine Minute, um ein Foto für seinen Blog zu machen, und zehn Minuten für einen Text. Wenn er keine Lust habe, käme halt nichts. So beschreibt er seine Vorgehensweise.
Der ganze Ort Neviges muss den Bericht im WDR über ihn und sein Blog gesehen haben. „Ich bin schon bekannt“, lacht Molitor. Jetzt erzählen im die Passanten von ihren Probleme und manche Themen hat er auch schon für sein Blog verwendet. Hach, weiter so!
FragFinn-App
Joe Bausch, Preispate für den „klicksafe Preis für Sicherheit im Internet“, schildert, wie er sich im Internet verhält, und betont, dass er besonders auf seine Daten achten würde. Er erzählt von der Haptik, die er liebt, wenn er sein Banking analog tätigt. Bausch, Gefängnisarzt im richtigen Leben und Gerichtsmediziner beim Tatort, unterstützt das Anliegen von „klicksafe“. Sicheres Surfen und Orientierung im Netz, besonders für Kinder, sie heutzutage enorm wichtig.. Der Preis geht an die „fragFinn-App„. Eine Suchmaschine für Kinder, die nur geprüfte und damit sichere Seiten angibt. Beispiel: das Suchwort Vampire. Normalerweise kein geeignetes Suchwort für Kinder bei Google & Co.. Mit „fragFinn“ hingegen schon.
Digitale Helden
Der zweite „klicksafe-Preis“ in der Kategorie „Projekte“ geht an die „Digitalen Helden„: ein schulübergreifendes Netzwerk für Lehrer und Schüler. Es ermöglicht eine intensive Zusammenarbeit zwischen Schulen, aber auch zwischen Schülern und Lehrern. Der Preis ist ein schöner Ansporn für das Pilotprojekt. Das Ziel der Website, so die Macher: Erreichen, dass bei Problemen einander geholfen wird und man voneinander lernen kann.
Und weiter geht es schon mit der Kategorie Wissen und Bildung
Nach einem romantischen musikalischen Intermezzo verkündet Roger Cicero gleich den diesjährigen Sieger in der Kategorie Wissen und Bildung: „Fort McMoney“ – ARTE darf jubeln. Der Spieler muss sich entscheiden: Wirtschaftlicher Aufschwung oder Verantwortung für die Umwelt? Ein intelligentes Videospiel, welches eine Stadt in Kanada porträtiert, die mit dem Abbau von Ölsanden in Kanada reich geworden ist – und genau dadurch starke soziale Probleme hat. Moderatorin Anja Backhaus ist froh, dass von den mindestens 20 Mitwirkenden bei ARTE France und in Kanada nur Alexander Knetig gekommen ist, um den Preis stellvertretend in Empfang zu nehmen – sonst hätte sie Französisch sprechen müssen. Unmöglich. Der Redakteur (aus Österreich) freut sich, dass bei „Fort McMoney“ tatsächlich 40 Prozent der Spieler aus Deutschland kommen – ungewöhnlich für ein ARTE-Webspecial.
Überraschung: Licht an und „Ice Ice Baby“
Eis wird als kleine Pause und willkommene Erfrischung verteilt. Nur Brigitte Baetz und Joachim Türk bekommen kein Eis (und die Zuschauer des Livestreams auch nicht, wie sich sogleich über die sozialen Medien beschwert wird). Als Mitglieder der Nominierungskommission und Jury verraten sie auf der Bühne, ob es bei der einen oder anderen Diskussion auch Türen knallen oder lauten Streit gibt. Gibt es natürlich nicht, es wird konstruktiv diskutiert. „Es ist eine aufreibende Arbeit, die aber auch viel Spaß macht“, sind sich beide einig.
Netzpolitik.org als Frühwarnsystem
Kommen wir zur Kategorie Spezial mit der Schauspielerin Gesine Cukrowski als Preispatin. Sie hat die Aufgabe, bei nur einem Nominierten in dieser Kategorie, so etwas wie Spannung zu vermitteln. Und das Ding geht an…..surprise, surprise…. „netzpolitik.org„. Seit Edward Snowden sind Datenschutz, Überwachung und digitale Bürgerrechte noch relevanter geworden. Autor Markus Beckedahl und sein rund 30-köpfiges Autorenteam berichtet und warnt schon seit über 10 Jahren, unter anderem über die Tätigkeiten der NSA. Christina Fiedler, Autorin aus Brüssel, nimmt den Preis entgegen und betont die Position von netzpolitik.org als Frühwarnsystem.
Einen haben wir aber noch!
Hier wäre die Preisverleihung mit Jurypreisen eigentlich vorbei, denn es sind keine Nominierungen in der Kategorie Spezial mehr übrig. Aber die Jury kann den Schwerpunkt bei der Preisvergabe ändern und ein Angebot in eine andere Kategorie verschieben. Und das hat sie in diesem Jahr getan! An dieser Stelle können sich alle, die noch keine Trophäe in den Händen halten, noch einmal Hoffnungen auf einen Preis machen. Ein Raunen geht durch den Raum. Laudatorin Gesine Cukrowski kommentiert es mit „der Ausgleich für die wenige Spannung eben“ und zögert die Verkündung besonders lange hinaus.
And the winner is: „Pop auf’m Dorf„. Ein lauter Aufschrei. Im Publikum schnellt eine Gewinnerfaust in die Luft. Das wird wohl Stefan Domke sein, der – schon zum dritten Mal nominiert – endlich die ersehnte Grimme Online Award-Trophäe erhält. Der WDR entwickelte für die Webreportage das Redaktionstool „Pageflow“, das sich, so Domke, durch eine einfache Bedienung auszeichnet. Die Grimme Online Award-Jury begeisterte aber vor allem, dass der WDR „Pageflow“ unter eine freie Software-Lizenz stellte. Damit kann jeder das Programm kostenlos verwenden. Öffentlich-rechtlich mal neu gedacht, so Stefan Moll vom WDR.
Apokalypse Now
Plötzlich prasselt heftig Regen auf das Wellblechdach des Hauses. Es ist kaum zu verstehen, welche Angebote den Publikumspreis erhalten haben. „Apokalypse da draußen“, vermutet Anja Backhaus.
„1,8 Millionen Youtube-Abonnenten sind auf den ersten Blick natürlich ein Vorteil, um den Publikumspreis zu erhalten“, stellt Lutz van der Horst, Preispate für den diesjährigen Publikumspreis, fest. „Und auch auf den zweiten“. Nicht nur um zu fragen, wo der Preisträger des Publikumspreises die T-Shirts her hat, die er in seinen YouTube-Videos trägt, bittet van der Horst Florian Mundt alias LeFloid auf die Bühne. Der Youtube-Star dankt seinen treuen Fans und ist glücklich, nicht als gescheitert nach Hause zu gehen.
Vielen Dank für die informative Aufstellung. :)