Der nukleare Wahnsinn – ein selbstzerstörerischer Wettkampf
Schneller, höher, weiter, tödlicher. 2021 fanden die Olympischen Spiele in Japan – dem Hotspot nuklearer Katastrophen – statt. Ein Ereignis, das Patrick Müller und sein Team dazu bewegte, durch die Web-Documentary „Nuclear Games“ über die immer noch bestehende nukleare Bedrohung aufzuklären und ihrer Verdrängung entgegenzuwirken. User*innen scrollen interaktiv durch fünf Stories, die die Auswirkungen der atomaren Gefahr und die persönliche Betroffenheit der Menschen illustrieren.
Die Web-Documentary „Nuclear Games – Die atomare Bedrohung“ ist für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert. Im Interview spricht Patrick Müller über den Entstehungsprozess des Projektes und erklärt, wie das Team durch das ausgewählte Format die häufig unterschätzte Kraft des Atoms verdeutlicht.
Mit Ihrem interaktiven Format vermitteln Sie Wissen und machen Nutzer*innen die Auswirkungen einer nuklearen Bedrohung bewusst. Was waren Ihre Beweggründe, sich mit der Thematik einer nuklearen Bedrohung auseinanderzusetzen?
Patrick Müller: Interessanterweise wurden wir von jemandem angesprochen, der in den 80er Jahren in der Bewegung war. Er hat sich darüber beklagt, dass das Thema gänzlich im Bewusstsein der jungen Bevölkerung verschwunden ist und dass immer noch ein enormes Bedrohungspotenzial da ist. Daraufhin fragte ich mich, ob es nicht an der Zeit wäre, dieses Thema wieder in die Öffentlichkeit zu tragen. Ich bin alt genug, um Tschernobyl und natürlich Fukushima erlebt zu haben. Nach solchen Katastrophen gibt es immer erst einen Hype und nach einer Phase der Verdrängung redet man dann plötzlich doch wieder von der Reaktivierung von Atomkraftwerken, um der Energieknappheit entgegenzuwirken.
Für die Umsetzung des Projekts wollten wir einen Anknüpfungspunkt finden und das waren damals die Olympischen Spiele in Japan. In Japan kommen nämlich drei wichtige Faktoren zusammen. Einerseits die militärische Bedrohung am Beispiel von Hiroshima und Nagasaki und andererseits die zivile Bedrohung am Beispiel von Fukushima. Der dritte Faktor ist das Verdrängen dieser Gefahren, sodass im Endeffekt sogar die Olympischen Spiele dort durchgeführt werden. Als würde man einfach sagen: „Alles in Ordnung, nichts passiert, das Leben geht weiter.“ Was wir damals natürlich noch nicht wissen konnten, war, dass der viel größere Anlass plötzlich durch die Aktualität des Ukraine-Krieges erzeugt wird. Das zeigt einmal mehr, dass solche Gefahren immer so lange verdrängt werden, bis sie plötzlich eminent sind. Das Thema gelangt immer erst ins Bewusstsein der Menschen, wenn etwas Schlimmes passiert. Wir wollten es eigentlich ohne richtigen, eminenten Anlass wieder in das Bewusstsein bringen, doch plötzlich ist es aktueller denn je.
Wieso sollte es Ihrer Meinung nach mehr Aufklärung zu der angesprochenen Thematik geben?
Patrick Müller: Es handelt sich hier um eine von der Menschheit selbstgeschaffene Bedrohung, die gar nicht nötig wäre. Der Mensch selbst hat dieses Gefahrenpotenzial entwickelt, welches relativ einfach aus der Welt geschaffen werden könnte. Zumindest was die Waffen und sicher auch die Energieversorgung anbelangt. Die Nukleartechnologie wurde immer bewusst in Kauf genommen und verdrängt. Jetzt bekommen wir quasi die Quittung dafür, dass die friedlichen Jahre um 1990 nicht für eine effektive Abrüstung genutzt worden sind. Man könnte jetzt sogar überlegen, ob die Ukraine angegriffen worden wäre, hätte sie nicht damals freiwillig auf die atomare Bewaffnung verzichtet oder ob wir vielleicht sogar eine größere Katastrophe hätten?
Warum erschien Ihnen das digitale Storytelling Format geeignet, um den User*innen die Thematik der nuklearen Bedrohung darzustellen?
Patrick Müller: Wir haben uns für dieses Format entschieden, weil wir die Kombination aus Story und Fakten spannend finden. Unser Ziel war es, über einfach zugängliche Stories einen Zugang zur Thematik zu schaffen, diese dann mit Fakten zu kombinieren und sequenziell heranzuführen. Wir machen aus dem digitalen Storytelling eine Doku-Fiction, also ein „illustriertes Reenactment“ der Realität, da ja niemand mit der Kamera dabei war als beispielsweise in einem Atom-U-Boot eine nukleare Waffe transportiert (Anmerkung der Redaktion: editiert, ehemals gezündet) wurde. Sowas haben wir dann in einer interaktiven Art illustriert, damit sich jeder einerseits in seinem eigenen Tempo, und andererseits in der selbst gewählten Tiefe mit der Thematik auseinandersetzen kann. Es gibt also Angebote in verschiedenen Informationslevels. Von ganz oberflächlich, um wenigstens die Message der Geschichte zu verstehen, bis hin zu tiefergehenden Fakten.
Der Mittelpunkt Ihrer Website sind fünf Kapitel, in denen Sie den User*innen die nukleare Bedrohung auf emotionale Art und Weise näherbringen. Wie verlief die Auswahl dieser fünf Geschichten?
Patrick Müller: Wir haben uns an der Metapher der Olympischen Spiele orientiert und wollten dabei die Symbolik der fünf Ringe aufgreifen, welche fünf Kontinente repräsentieren. Das verlief nach einem Raster, denn wir wollten zeigen, dass die nukleare Bedrohung ein weltweites Problem ist. Also suchten wir nach fünf Geschichten aus fünf Kontinenten. Alle größeren Bedrohungsszenarien sollten abgedeckt werden, darunter eben das Wettrüsten und ebenso der Kalte Krieg, also das Gleichgewicht des Schreckens. Auch den Uran-Kreislauf wollten wir miteinbringen. Dabei schauten wir nach Afrika, da Afrika selbst nur Lieferant ist und selber kaum Strom oder Atomwaffen produziert. Für die Veranschaulichung der zivilen Nutzung haben wir uns an der Tschernobyl-Krise orientiert. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Weiterverbreitung von Kernwaffen. Diesbezüglich haben wir die Story über Kim Jong-Un in Nordkorea ausgesucht. Auch die Dekaden der Testversuche wollten wir verdeutlichen. Diese Story haben wir in der Pazifikregion platziert, da dort ganze Inselatolle durch Probeläufe vollständig ausradiert wurden, was unendlich viel Leid und Spätschäden verursachte.
Unsere Auswahl sollte Geschehnisse auf der ganzen Welt betreffen. Ein weiteres Kriterium war, die verschiedenen Bedrohungsszenarien anhand von persönlichen Geschichten zu konkretisieren. Wir sind der Frage nachgegangen, wo es tatsächlich Stories gibt, die die persönliche Betroffenheit der Menschen selbst veranschaulichen.
Die Erzählweise der Kapitel erinnert durch Ihre Illustrationen an eine Art Comic-Heft. Wie kamen Sie auf die Idee, ausgerechnet diesen Stil zu wählen?
Patrick Müller: Uns schwebte ein Format im Sinne eines Dokudramas vor. Eine Kombination aus Stories und Fakten. Die meisten Geschichten wurden nicht mit einer dokumentarischen Kamera begleitet. Solche fehlenden Bilder werden durch unser Format illustriert. Die Verankerung in Japan brachte die Idee, die Geschichten in Form von Mangas zu erzählen.
Welche unterschiedlichen Kompetenzen waren im Team notwendig, um das Projekt umzusetzen?
Patrick Müller: Wir machen viele Projekte dieser Art. Es braucht immer verschiedene Disziplinen. Erstens muss man sich ein Konzept überlegen. Das schließt ein, sich die Stories auszudenken und zu recherchieren bzw. Material als Grundlage für die Erstellung eines konstruktiven Inhalts zu finden. Die Stories müssen daraufhin geschrieben und geschnitten werden. Das Team Visual Design kümmert sich um den kompletten Aufbau und die Umsetzung des Inhalts und Comic-Stils. Also das komplette visuelle Framework. Und dann geht es Hand in Hand. Die berühmte Aussage des Regisseurs John Lasseter beschreibt unsere Zusammenarbeit sehr gut: „The art challenges the technology, and the technology inspires the art.“ Dieses interessante Zusammenspiel haben wir genutzt, um unser Storytelling möglich zu machen. Denn anfangs hatten wir nur statische Bilder. Überlegt wurde dann, wie das Ganze technisch kombiniert werden kann, damit ein solcher Scroll-Fluss entsteht. Dabei haben wir uns immer darauf fokussiert, wie wir das Ganze am besten designen, um diesen filmischen Effekt zu verwirklichen. Am interessantesten war das wöchentliche Austauschen, bei dem durch unsere verschiedenen Disziplinen Schnittstellen zwischen Content, Design und Programmierung diskutiert wurden. Ein gegenseitiges Inspirieren, wodurch etwas, aus unserer Sicht, viel Spannenderes möglich wurde.
Wie lange hat der Prozess bis zur kompletten Fertigstellung des Projektes gedauert?
Der ganze Prozess hat ungefähr drei Jahre gedauert. Bei solchen großen Projekten hat man zuerst eine grobe Idee. Dann haben wir uns überlegt, wie man das Ganze aus dem Nichts starten lässt und es für jede und jeden zugänglich macht. Plötzlich kam die Idee auf, das Projekt mit den Olympischen Spielen in Japan zu verbinden. Diese wurden dann aber ein Jahr nach hinten verschoben. Ein Konzept für die Finanzierung aufzustellen brauchte ebenso Zeit. Dementsprechend dauerte die wirklich intensive Phase der Umsetzung unserer vorher geplanten Story bis zum fertigen Produkt ein gutes Jahr.
Wie waren die Reaktionen auf das Projekt?
Patrick Müller: Die Reaktionen auf unser Projekt waren anfangs nicht sonderlich breit. Durch eine Zusammenarbeit mit dem Schweizer Fernsehen konnten wir glücklicherweise mit einer Fernsehsendung zusammenarbeiten. Allerdings haben wir auch bewusst gesagt, dass wir das Projekt zwar im deutschen Sprachraum lancieren wollen, mit einem internationalen Launch allerdings noch warten, bis das Thema wieder mehr auf der Agenda ist. Tatsächlich nicht gekoppelt an die Japan-Geschichte, sondern davon losgelöst. Wir wussten nicht, dass die Thematik wieder realer denn je wird. Daher sind wir gerade daran, das Projekt unter einem anderen Titel noch mal neu zu releasen. Um international mehr Reichweite zu erlangen, lautet es dann nicht mehr „Nuclear Games“ – sondern angepasst an die aktuellen Umstände „Nuclear Fear“. Denn die Realität hat das Projekt eingeholt und die Angst ist nun zurück. Das Bedrohungsszenarium war die komplette Zeit über vorhanden. Doch von einem auf den anderen Moment ist die tatsächliche, reale Angst zurück.
Planen Sie für die Zukunft weitere Projekte als Web-Documentary?
Patrick Müller: Wir haben wie gesagt schon mehrere solcher Projekte wie Nuclear Games umgesetzt. Alle haben die gleiche Grundbasis, „ein narratives Framework“. Wir planen also durchaus noch weitere Projekte in dem gleichen Format und im selben Stil. Vom Inhalt her arbeiten wir gerade hart daran, wie wir den Menschen das Thema noch zugänglicher machen können, jetzt wo es wieder an einer solchen Aktualität gewonnen hat. Wir wollen das Projekt weiterentwickeln und noch deutlicher machen, dass das atomare Bedrohungsszenario – dieser menschengeschaffene Wahnsinn – schon immer da war und einfach durch das menschliche Verdrängen in den Hintergrund rückte.
Das Interview führten Christina Renje und Laura Maria Dahl. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation“ an der TH Köln.
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