„Die Liste deutscher Gräueltaten gegen die sowjetische Bevölkerung ist (…) im deutschen Diskurs noch stark unterbelichtet.“
Ein Interview mit Leonid A. Klimov und Peggy Lohse über die nominierte Website „Der Krieg und seine Opfer“
„Der Krieg und seine Opfer“ von dekoder.org ist eine aufwändige Scroll-Doku über den Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion, die auf den persönlichen Zeugnissen von realen Protagonist*innen aufbaut. Ihre eindringlichen Notizen oder Erinnerungen stehen im Mittelpunkt von derzeit vier Folgen, in denen die Verfolgung von Juden, Kriegsgefangenschaft, Kinder im Krieg und Zwangsarbeit in Kooperation mit internationalen Historiker*innen wissenschaftlich aufbereitet und mit berührenden Graphic Novels, dynamischen Karten und Infografiken versehen werden. Das GOA-Blog hat dem Wissenschaftsredakteur von dekoder, Leonid A. Klimov, und der Co-Redakteurin und Journalistin Peggy Lohse, drei Fragen zum Projekt gestellt.
Wie ist die Idee zu Ihrem Angebot entstanden? Gab es einen konkreten Anlass?
In der öffentlichen Debatte der vielen menschenverachtenden Nazi-Verbrechen wird oft auf ein zentrales Thema fokussiert – den Holocaust. Und im Kontext des Holocaust wiederum auf die Vernichtungslager, in denen Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden.
Mit unserem Projekt gehen wir „östlich von Auschwitz“ weiter und damit „östlich von unserer Erinnerungskarte” – zu den Opfern des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion (1941–1945). Das war ein Vernichtungskrieg gegen die Menschen, die in diesen Regionen lebten – jüdische und nicht-jüdische Ukrainer∙innen, Belarus∙innen, Pol∙innen, Russ∙innen. Viele von ihnen betrafen bis zum deutschen Überfall bereits sowjetische Besatzung und Verfolgung. Dann kamen die Nationalsozialisten mit ihrer systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung durch Massenerschießungen, noch bevor sie Jüdinnen und Juden in Vernichtungslagern vergasten. Außerdem beuteten die Nazi-Besatzer Millionen von Menschen – darunter unzählige Kinder und Jugendliche – in Zwangsarbeit aus, quälten – wider jedes Kriegsrecht – Kriegsgefangene, ermordeten gezielt Roma und Romnja, psychisch und physisch kranke Menschen und die Bewohner∙innen ganzer Ortschaften. Die Liste deutscher Gräueltaten gegen die sowjetische Bevölkerung ist lang. Und im deutschen Diskurs noch stark unterbelichtet – das zeigt sich auch immer wieder in den Diskussionen rund um die Unterstützung der Ukraine gegen Russlands Angriffskrieg, wenn Argumente wie „historische Verantwortung“ aus dem zeitlichen Kontext gerissen verwendet werden.
Unser Projekt “Der Krieg und seine Opfer” ist eine „Osterweiterung der deutschen Erinnerung“ – wir stellen verdrängte und vergessene Orte und Opfer dieser deutschen Massenverbrechen in der Ukraine, in Belarus, Russland, dem Baltikum und andernorts in den Vordergrund.
Die Projektidee entstand 2021, als wir bei dekoder auf das trilaterale Forschungsprojekt „Violence against Civilian Victims on the Eastern Front of World War II“ stießen. Unter Leitung von Professorin Tanja Penter von der Universität Heidelberg hat ein Dutzend Wissenschaftler∙innen aus Deutschland, der Ukraine und Russland umfassende Forschungsarbeit zu diesem Thema geleistet.
Gemeinsam mit Prof. Penter und ihrem Forschungsteam haben wir im Februar 2022, noch kurz vor dem großen russischen Angriff auf die Ukraine, das erste Konzept entwickelt, das wir später mehrmals überarbeitet haben, bis es die heutige Form angenommen hat: eine zehnteilige Scroll-Doku, in der der Deutsch-Sowjetische Vernichtungskrieg aus der Perspektive seiner Opfer erzählt wird, basierend auf primären Quellen und aktueller Forschung.
Was war der größte Erfolgsmoment in der Arbeit, was die größte Herausforderung?
Als wir im August 2023 am Prototyp bastelten, trafen wir uns alle in einem Zoom-Meeting und unser Code-Zauberer Sev von village one präsentierte das Zwischenergebnis: Er scrollte und scrollte und scrollte … bis zum Ende der ersten Folge. Dann sagte er: „OMG, that’s really very long, isn’t it? And we haven’t added any maps yet”.
Die Länge und die Komplexität des Themas ist neben der intensiven Beschäftigung mit diesen wirklich grausamen, aber wahren Geschichten die größte Herausforderung.
In der “Textwelt” gab es für uns kaum Formatvorbilder. Das Thema ist komplex und umfangreich, umfasst einen großen Zeitraum – mindestens zwei Jahrzehnte vom Ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit – und sehr viele Akteur∙innen. Viele von ihnen passen nicht in das Täter-Opfer-Schema, folgten einer eigenen Agency und entwickelten im Laufe des Krieges eigene Handlungsstrategien. So tendiert jede einzelne Erzählung zum “Epos” – nicht nur inhaltlich, sondern ganz praktisch, was die Länge der Texte anbelangt.
Aber wie passt nun Länge zur bekanntermaßen schrumpfenden Aufmerksamkeitsspanne von Internet-Nutzer∙innen?
Wir haben als interdisziplinäres Team ein Format entwickelt, in dem wir den großen Erzählbogen über den Krieg in zehn Folgen aufsplitten. Jede Folge teilt sich wiederum in übersichtliche Sequenzen. Diese “Elementarteilchen” finden auf drei unterschiedlichen Ebenen statt:
- die Perspektive der Protagonist∙innen in bewegten und bewegenden Animationen und Zitaten aus Primärquellen
- die Perspektive der Erzähler∙innen, unseren Autor∙innen mit ihrem wertvollen Kontext- und Detailwissen
- die Meta-Perspektive auf dynamischen Karten und Datenvisualisierungen
Sie alle sind miteinander verwoben, wachsen auseinander, greifen einzelne Aspekte auf und kontextualisieren sie. So entsteht hier das Narrativ.
Weitere Herausforderungen waren: Daten-Chaos und digitale Bildungsinfrastruktur. Man würde erwarten, dass viele NS-Themen und dazugehörige Daten bereits aufgearbeitet seien. Aber nein, es gibt nicht einmal ein vollständiges Verzeichnis aller deutschen Konzentrationslager. Viele Daten müssen wir fast von Null zusammenstellen.
Und so sieht es aus, wenn man dann NS-Verbrechen auf eine Europa-Karte sammelt: war.dekoder.org/de/map
Und zum Erfolg: „OMG, that’s really very long, isn’t it?” Ja, aber tausende Leser∙innen bleiben auch lange dran. Und manche schreiben uns Nachrichten oder Mails oder geben uns persönlich Feedback, das uns zeigt: Die Arbeit lohnt sich, wir bleiben dran.
Welche Resonanz gab es auf Ihr Angebot und wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?
„Als ich es aufgemacht habe, hatte ich gar keine Erwartung. Es hat mich aber erschüttert, wie gut ihr das gemacht habt, ich konnte nichts mehr machen, bis ich zu Ende gelesen habe“, heißt es in einer der Lesermails.
Diese Resonanz freut und zeigt uns, dass die Arbeit nicht umsonst war. Ebenso das Feedback von Kolleg∙innen aus dem Journalismus und der Wissenschaft: “Es ist beeindruckend und bedrückend gut gemacht”, uns sei es gelungen, wissenschaftsgerecht Micro- und Macro-Perspektiven miteinander zu vereinen.
Nun arbeiten wir weiter – bis Ende Januar 2025 kommen noch fünf Folgen: über Romnja und Roma, kranke Menschen, Frauen und sexualisierte Gewalt, vernichtete Ortschaften und Massenerschießung im Herbst 1941 in Babyn Jar (Kyjiw). Alle Folgen erscheinen außerdem zeitversetzt auf Ukrainisch und Russisch.
Gleichzeitig schmieden wir schon Zukunftspläne. Viele der Quellen, mit denen wir arbeiten, sind noch nicht veröffentlicht, dabei handelt es sich um unheimlich interessante Texte, wie die Aufzeichnungen von Perets Goldstejn, einem Juden aus der Westukraine, der rund acht Monate im Versteck auf dem Dachboden eines polnischen Bauern 150 Seiten lang auf Jiddisch die Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten in seinem Heimatort dokumentierte. Oder das analytisch-autobiografische Buch des Kinderpsychiaters Marat Kusnezow, der als Kind Nazi-Kinderheime erlebte und dann nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. Das sind nur zwei Beispiele, die noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden.
Außerdem möchten wir weiter Daten systematisieren und Datenessays zu einzelnen Themen entwickeln. Wir denken auch an eine mögliche „zweite Staffel“ des Projektes. Und wir freuen uns auf weitere Kooperationen mit Medien, Instituten und Gedenkstätten. Schreibt uns gerne an!
Vielen Dank für das Interview!
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