Gegen das Vergessen: Stolpersteine neu erleben
Stolpersteine: die goldenen Quadrate zum Gedenken an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, eingelassen in den Boden diverser Städte in Deutschland und Europa. Das Lebenswerk des Künstlers Gunter Demnig bekommt durch das Projekt „Stolpersteine NRW“ des WDR-Teams eine multimediale Umsetzung gegen das Vergessen. Das Projekt ist nominiert für den Grimme Online Award 2023 in der Kategorie „Wissen und Bildung“ und stellt eine interaktive Aufarbeitung verschiedenster Lebensgeschichten in NRW dar, die im NS-Regime ein gewaltsames Ende gefunden haben. Im Gespräch erzählt Stefan Domke von den Erfahrungen und der Durchführung der Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und Freiwilligen aus 270 Städten, die gemeinsam gegen das Vergessen dieser Leben vorgehen.
Gab es einen Anfangsfunken, der die Idee für das Projekt entflammt hat?
Stefan Domke: Entflammt ist vielleicht zu viel gesagt. Wir waren mit den Sonderprojekten, die wir 2018/2019 abgeschlossen hatten, durch und haben im Team überlegt, was wir Neues machen können. Wir wollten etwas, was interaktiv ist und was abseits eines normalen Content-Management-Systems passieren soll. Im Team, bestehend aus drei oder vier Kolleg*innen, kannten wir alle die Stolpersteine. Wir haben dann aber festgestellt, dass wir abgesehen davon, dass wir sie kennen, relativ wenig über das, was sich dahinter verbirgt, wissen. Die ersten Recherchen haben ergeben, dass es nicht nur uns so geht. Zudem gab es nichts, was als digitale Ergänzung funktioniert, zumindest nicht in diesem Ausmaß und auf einem gewissen Standard.
Das Projekt wurde zusätzlich zur Website auch als App realisiert. Gab es für diese ungewöhnliche Darstellungsform einen Anstoß?
Stefan Domke: Wir wollten das Ganze konsequent zu Ende denken und eine digitale Erweiterung schaffen. Damit das Projekt Stolpersteine mobil nutzbar wird, haben wir schon am Anfang überlegt, ob das nicht auch mit einer mobilen Website möglich ist. Der Aufwand wäre da geringer gewesen. Aber gewisse Funktionalitäten und Features sind so im Browser nicht abbildbar, jedenfalls nicht komfortabel für die Nutzenden. Stichworte sind da Standortbestimmung, Navigation, aber auch das Zusatzfeature bezüglich Augmented Reality. Wir haben uns dann für beides entschieden. Unser Angebot ist gespiegelt auch im Browser nutzbar. Auch das ist ganz bewusst geschehen, weil wir wissen, dass es genügend Menschen gibt, die schon viele Apps auf dem Handy haben und nicht noch eine weitere möchten. Vielleicht können sie aufgrund der Technik gewisse Features nicht nutzen, weil sie ein altes Handy haben oder, die dritte Variante, sie wollen in Ruhe in den Inhalten recherchieren. Dafür eignet sich dann eben die App wieder weniger, weil es komfortabler ist, die Filterfunktionen auf einem großen Bildschirm zu nutzen. Deshalb gibt es für PCs und für Tablets die Webversion.
Wie lange hat es ungefähr gedauert, dieses riesige Projekt umzusetzen?
Stefan Domke: Wir haben uns gehörig verschätzt, was den Aufwand, die Zeit und die Personalressourcen angeht. Dann kam zusätzlich noch Corona dazu. Wir haben mit dem Projekt Anfang 2020 begonnen und es hat fast zwei Jahre gedauert, bis wir Anfang 2022 den Launch vollzogen haben. Das lag tatsächlich daran, dass wir von einigen Voraussetzungen ausgegangen sind, die so nicht zutreffend waren und dadurch haben sich Sachen verzögert.
Was waren das für Voraussetzungen?
Stefan Domke: Wir haben ganz am Anfang natürlich versucht zu klären, wie der Mensch, der das Ursprungsprojekt ins Leben gerufen hat, unsere Idee einer digitalen Erweiterung findet. Also haben wir mit Gunter Demnig und seiner Frau Kontakt aufgenommen. Sie gaben uns positives Feedback und sicherten uns Unterstützung zu, das war dann die Initialzündung. Das beinhaltete nicht nur moralische Absegnung, sondern auch das Zurverfügungstellen der gesammelten Daten. Als ich von dem Besuch nach Köln zurückgekehrt bin, hatte ich den ganzen Kofferraum voller Aktenordner, weil Gunter Demnig in den letzten 30 Jahren für jeden Stein, den er verlegte, handschriftlich ein Formular mit den wichtigsten Daten ausgefüllt hat. Für die fehlenden Angaben haben wir dann Wikipedia genutzt, weil dort listenbasiert Informationen über viele Steine vorhanden sind. Zusätzlich mussten wir dann feststellen, dass es extreme Abweichung gibt in den Informationen und Inhalten. Daraus resultierte dann die Feststellung, dass, wenn wir unserem Ziel nahekommen wollen, 100 % aller NRW-Steine abzubilden, der eigene Rechercheaufwand doch wesentlich größer ist. Eigentlich sogar zu groß, selbst für ein so großes Haus wie den WDR. In den ersten Monaten entstand dann der Gedanke, dass wir diesem Ziel eigentlich nur nahekommen, wenn wir uns lokale und regionale Kooperationspartner*innen suchen und diese davon überzeugen, gemeinsam mit uns dieses Projekt umzusetzen. Daraus ist entstanden, dass wir mit einem Großteil der nordrhein-westfälischen Städte zusammenarbeiten, die uns dann auch wiederum Informationen zugeliefert haben und Zugriff auf unsere Datenbank hatten.
Wenn man sich die App anschaut, spiegelt sich diese große Anzahl an Mitwirkenden wider. Wie ist die Zusammenarbeit zustande gekommen?
Stefan Domke: Im Frühjahr 2020 dachten wir, dass wir zumindest alle Städte richtig recherchiert haben. Damals sind wir von 240 Städten in NRW ausgegangen, in denen sich Stolpersteine befinden. Unser Ziel war es, in jeder Stadt einen der Verantwortlichen zu kontaktieren und, im Idealfall, davon zu überzeugen, mit uns zu kooperieren. Diese Adressliste wollten wir anschreiben, um sie zu einem Kick-Off Termin nach Köln einzuladen. Wir haben schon Zusagen bekommen, doch dann war klar, dass es aufgrund der Entwicklungen betreffend Corona so nicht funktionieren wird. Wir sind dann auf Zoom umgeschwenkt. Das Erstaunliche war, dass dort so viele Leute in dieser sehr ungewohnten Konferenzumgebung teilnehmen wollten, dass wir die Gruppe sogar in zwei Teilnehmergruppen aufteilen mussten. Vierteljährlich treffen wir uns in Werkstattgesprächen, um alle auf dem Laufenden zu halten. Dann haben wir die Menschen, die vor Ort für die Steine verantwortlich sind. Diese sind zum einen ehrenamtlich Mitwirkende, zum anderen kommunale Mitarbeiter*innen. Unser Ziel war einen Informationsfluss hinzukriegen und wir wollten möglichst niedrigschwellig die Chance bieten, dass die Inhalte aus der jeweiligen Stadt direkt eingegeben werden können. Man ruft dann einfach eine passwortgeschützte Seite auf und hat dort eine mehr oder weniger verständliche Oberfläche, die nach einer kurzen Einarbeitung auch von Laien zu bedienen ist. So versorgen uns bis heute viele Städte mit den Informationen, die wir selbst nicht recherchieren müssen. Zusätzlicher Aufwand kommt durch unsere eigenen Qualitätsstandards hinzu. Wir sind verpflichtet, in diesem Projekt das Vier-Augen-Prinzip umzusetzen. Das heißt, wir gucken auf alles drauf, was uns zugeliefert wird. Zusätzlich machen wir aber auch eine Abnahme der Sachen, die bei uns im Team selbst recherchiert werden. Wir versuchen das Zwei-Quellen-Prinzip auch bei diesen, teilweise sehr alten Fakten, in irgendeiner Art und Weise zu berücksichtigen.
Wie hat sich die Zusammenarbeit mit Gunter Demnig und seiner Frau gestaltet?
Stefan Domke: Mit seiner Frau Katja Demnig haben wir regelmäßigen Kontakt. Sie nimmt meistens selbst an den Werkstattgesprächen teil. Gunter Demnig hat Ende letzten Jahres seinen 75. Geburtstag gefeiert und reist auch selbst immer noch quer durch Europa. Stolpersteine gibt es ja nicht nur in Deutschland, sondern mittlerweile auch in 30 anderen Ländern. Er legt einen Großteil der Steine immer noch selbst und allein in NRW sind im vergangenen Jahr über 600 neue Steine hinzugekommen. Ich sage das deshalb, weil das heißt, dass ein über 75-Jähriger damit eigentlich schon ganz gut ausgelastet ist. Was wir aber versucht haben, ist, ihn von Anfang an zu involvieren. Ich glaube schon, dass ihm bewusst war, dass das eine Chance ist. Er hat sich das fertige Produkt angeschaut und ist davon ebenfalls begeistert gewesen. Das war unsere größte Sorge, dass er nach anderthalb Jahren Vorlaufzeit sagt, er würde sich davon distanzieren. Das ist zum Glück nicht der Fall gewesen. Ansonsten ist ein wichtiger Bestandteil die Arbeit mit den Mitarbeitenden der Stiftung. Beispielsweise ist es für uns sehr wichtig, dass wir früher als die Öffentlichkeit wissen, wann und wo welche Stolpersteine neu verlegt werden. Nur dann haben wir die Chance zur Steinverlegung die Inhalte direkt online zu haben. Erfreulicherweise gelingt uns das mittlerweile und das nur, weil wir den Draht zur Stiftung von Demnigs haben.
Ohne diesen Kontakt wäre dann das ganze Projekt also nicht möglich?
Stefan Domke: Es wäre dann nur wieder deutlich kleinteiliger. Mittlerweile sind es 270 NRW-Städte und so sehr ich mich über unsere Kooperationspartner*innen freue, muss man leider auch sagen, dass es genügend Orte gibt, in denen die Verantwortlichen kein Interesse daran haben, mit uns zu kooperieren. Das sind erstaunlicherweise selten die ehrenamtlichen Mitwirkenden, sondern eher die mit einem beruflichen Auftrag. Da scheint immer noch ein Konkurrenzdenken im Hintergrund eine Rolle zu spielen. Also der Gedanke: wer die WDR-App öffnet, öffnet nicht mehr die Homepage meiner Gedenkstätte. Mittlerweile hat sich zumindest in Teilen die Erkenntnis durchgesetzt, dass das eine Win-win-Situation für alle Beteiligten ist. An vielen Stellen haben wir Inhalte bekommen, die wir ansonsten mit einem viel größeren Aufwand selbst hätten recherchieren müssen. Umgekehrt bekommen wir das positive Feedback, gerade aus kleineren Städten. Die Inhalte sind zwar in Broschüren, Flyern oder auf einer kleinen Homepage präsentiert, werden aber natürlich nur ein sehr begrenztes Zielpublikum erreichen. Bei uns ist die Reichweite deutlich größer, die sie mit ihren Inhalten erzeugen. Einigen reicht dann der kleine Happen an Infos, den es bei uns gibt, wieder andere möchten tiefer einsteigen. Für diese Interessensgruppe gibt es darum dann die Links, die zu den lokalen Angeboten führen.
Wie geht ihr mit eventuell aufkommender Kritik um?
Stefan Domke: Ich glaube, es gibt kein öffentliches Projekt, an dem es nicht auch aus irgendeiner Ecke Kritik gibt. Beispielsweise wird gesagt, dass es negativ ist, weil diese Steine betreten werden und damit beschmutzt werden. Ich kann eher den Standpunkt von Gunter Demnig und auch von beispielsweise jüdischen Interessenvertreter*innen nachvollziehen, die sagen, man kann es auch ganz anders interpretieren. Daraus wird dann: Ich verbeuge mich vor dem Opfer. Ich schaue nicht herab, sondern ich neige mein Haupt im Gedenken an diese Person. Die Gegenposition ist dieses kritische Grundrauschen, was wohl auch nicht weggeht. Aber die Kritik steigt auch nicht an, und das finde ich ist ein Indiz dafür, dass es so ist, wie es ist. Der Gedanke aber, stattdessen Gedenktafeln an die Häuser anzubringen, ist zwar schön, aber in vielen Städten zeigt sich, dass das überhaupt nicht funktioniert, weil die Hausbesitzer dem zustimmen müssten. Die Idee, das Ganze im Gehweg, also auf öffentlichem Grund zu machen, führt dazu, dass wir 270 Städte in NRW mit Stolpersteinen haben. Auch bundesweit gibt es sehr wenig Städte, die sich gegen diese Aktion mit ihrer politischen Entscheidung gestellt haben. Ich glaube, dass das eine sehr kleine Minderheit ist.
Was sind deiner Meinung nach Besonderheiten, die in dem Projekt hervorgehoben werden sollten?
Stefan Domke: Da gibt es viele Kleinigkeiten, aber naheliegend sind hier die verschiedenen inhaltlichen Darstellungsformen. Unsere Minihörspiele sind toll für denjenigen, der diese Art der Inhaltsvermittlung mag. Das ist auch nicht völlig überraschend, da wir eine sehr gute Hörspielabteilung im WDR haben. Aber die Idee von Graphic Stories, so wie wir sie im Projekt für 230 Gedenksteine als Ergänzung anbieten, freut mich in der Umsetzung besonders. Das hat sich dann auch irgendwann ausgezahlt, wie wir am Feedback merken. Aber ganz unabhängig davon, selbst wenn das Feedback nicht so positiv gewesen wäre, mein kleines Highlight ist es. Die Idee zu entwickeln, Zeitzeug*innenberichte als Basis für die Illustrationen der Graphic Stories zu nehmen und junge talentierte Menschen dies umsetzen zu lassen, finde ich immer noch sehr gelungen. Die zweite Sache ist nicht ganz so gut beschreibbar, aber ich bin schon auch ein bisschen stolz darauf, dass wir es geschafft haben, bei einem Projekt dieser Größe das Thema Creative Commons mit einzubinden. Das Creative Commons Prinzip sagt, ich produziere etwas und stelle es unter eine Lizenz. Die ist mit geringfügigen Einschränkungen versehen und ermöglicht anderen Menschen diese Inhalte auch zu nutzen. Da wir mit unserem Projekt auch eine junge Zielgruppe erreichen wollen, haben wir alle Texte, die Graphic Stories und unser komplettes Glossar mit fast 300 Begriffserklärungen unter Creative Commons gestellt. Wer möchte, kann diese Inhalte verwenden und beispielsweise in einem Schulprojekt oder auch der App der Bildungseinrichtung platzieren. Da muss man uns nicht fragen, es gibt keine Vertragsverhandlung und vor allem es kostet kein Geld und das finde ich super.
Das Interview führte Khira Strauß. Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen im Bachelor-Studiengang „Mehrsprachige Kommunikation” an der TH Köln.
Zusätzlich ist ein kurzes Videointerview zum Projekt entstanden, realisiert von Studierenden des BA Intermedia an der Universität zu Köln:
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